Stammbaum von Maxim Leos Familie (Bild: KiWi-Verlag)

Von der Hoffnung auf Heimkehr

Maxim Leo reist durch seine Familiengeschichte, schreibt von Helden und von den Gräueltaten des 20. Jahrhunderts. Nicht nur historisch, sondern zeitgeschichtlich ein wertvolles Buch, dem der Brückenschlag ins 21. Jahrhundert gelingt.

Der Beginn von Maxim Leos Familiengeschichte liegt in der gleichen Zeit wie Judith Kerrs „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“, nämlich in den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts. Auch ihr Ausgangsort ist der Gleiche: Berlin. Während Judith Kerr in ihrem Kinderbuch die selbst erlebte Flucht der Familie durch verschiedene Stationen beschreibt, erzählt Leo die Geschichte seiner Familie retrospektiv. Dazu besucht er noch lebende Verwandte, Onkels, Tanten sowie Cousins und Cousinen bzw. deren Abkömmlinge, denn er möchte seine Familie finden, von der er so wenig weiß, da sie zur Nazizeit in alle Richtungen zerstreut worden ist. Ausgehend von den Urgroßeltern arbeitet er sich entlang der Lebenswege der Geschwister durch chronologisch aufeinander folgende Kapitel bis in die Jetztzeit vor. Sehr hilfreich dabei ist der Stammbaum im Vorsatz, der es dem Leser erleichtert, sich in jedem neuen Kapitel sofort zurecht zu finden.

Entziehung der Lebensgrundlage

Die Vertreibung der jüdischen Familienmitglieder, die sich gar nicht jüdisch fühlen, sondern ganz und gar deutsch sind, beginnt ebenso subtil, wie wir das aus vielen anderen Beispielen kennen. Meidung, Gängeleien und Schikane, schließlich Entziehung der Anwaltszulassung bzw. Approbation und damit der Lebensgrundlage. Das alles findet nicht nur im familiären Umfeld statt, auch Freunde, Kollegen und Bekannte sind betroffen, Walter Benjamin, Alfred Döblin, Otto Klemperer, Hannah Arend und Klaus Mann gehören dazu, um nur einige zu nennen.

Die Flucht- und damit die Lebenswege der betroffenen Familienmitglieder entwickeln sich völlig unterschiedlich. Die Familie fällt auseinander. Frankreich, England, Schweiz und Palästina sind Stationen. Ehen werden geschlossen und wieder geschieden, Kinder geboren. Das alles verbunden mit der Hoffnung auf ein baldiges Ende des Grauens und des schon entfesselten Krieges. Hoffnung auf Heimkehr, die sich für einige erfüllt, allerdings erst spät und auch auf Umwegen.

Versöhnliches trotz Gräueltaten

Der Autor beschreibt die einzelnen Biografien, so weit sie sich zurück verfolgen lassen, anhand von Interviews mit noch lebenden Verwandten, ergänzt seine Erzählung aber auch wunderbar durch Briefwechsel und Fotos, die er auf Dachböden in verstaubten Kartons und in den Alben der Hinterbliebenen findet. Dazu bedient er sich einer unprätentiösen und sehr gut lesbaren Erzählsprache, welche die durchaus glücklichen und schönen Momente, die es auch auf der Flucht gab, aufscheinen lässt – ohne anzuklagen, zu dramatisieren oder zu verurteilen.

Leo stellt die politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen dar, ohne dabei die Nazi-Barbarei in den Vordergrund zu stellen und zu verteufeln. Sie sind der Film, vor dem sich die Familiengeschichte abspielt. Und so finden auch zahlreiche Helden in dem Buch Erwähnung, die es den Familienmitgliedern ermöglicht haben, zu fliehen oder ihre Flucht fortzusetzen, die sich der Kinder angenommen haben, auch noch nach dem Ende des Krieges. Diese Schilderungen relativieren die Gräueltaten jener Zeit nicht, tragen jedoch ein versöhnliches Element in sich.

Geschichte – tagesaktuell erlebbar

Nicht nur historisch, sondern zeitgeschichtlich wertvoll macht das Buch, dass dem Autor der Brückenschlag in das 21. Jahrhundert gelingt, in dem er ganz aktuell Bezug nimmt auf die Themen, die zur Zeit die politischen Diskussionen bestimmen, wie der Brexit, die Wahlerfolge rechter Parteien in Europa, die weltweiten Migrationsströme, der sich vermehrt zeigende Antisemitismus und der „ewige“ Krisenherd Palästina-Israel.

Ein spannendes und, angesichts der gesellschaftlichen Umbrüche, tagesaktuelles Werk, das man nicht mehr aus der Hand legen mag, bevor es ausgelesen ist. Unbedingt empfehlenswert – auch für alle Kultusminister, das Buch zur Pflichtlektüre im Geschichtsunterricht zu machen. So, wie dieses Buch geschrieben ist, wird Geschichte erlebbar, so ist Geschichte spannend und ein Beitrag zum „Nie wieder“.

 

Maxim Leo: Wo wir zu Hause sind. Die Geschichte meiner verschwundenen Familie (Kiepenheuer & Witsch, 2019), 368 Seiten, 22 Euro.


Kategorie: hinsehen.net Gelesen

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