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Unbeschwert rebellisch – in der Drosselgasse

Das fiel mir bei meinen Reisen auf, junge Menschen streben zu den Touristenattraktionen, die ich früher immer gemieden hatte, weil sie so spießbürgerlich erschienen, wie zum Beispiel die Drosselgasse in Rüdesheim. Was, so habe ich mich gefragt, macht diese Ziele für viele junge Menschen anziehend?

Menschen reisen durch die Lande, durch Corona bedingt mehr innerhalb Deutschlands. Vorher hatten sich die Fahrradfahrer und Wanderer schon aufgemacht, um von Ort zu Ort und vor allem von Attraktion zu Attraktion zu gelangen. Ein Weg, der nur ein Weg ist, hält die Motivation nicht aufrecht. Also wird der Weg so geplant, dass Rast an Orten gemacht werden kann, die bekannt, alt, besonders schön oder sonst wie aus dem Einerlei heraustreten. Und,

Zeigt die ältere Generation, wie es geht?

Wer glaubt, in der Drosselgasse würden sich die Greisen und Alten aufhalten, wird sich wundern, wenn er dort einmal zufällig oder gewollt strandet. Irgendwie scheint dieser Ort eine hohe Anziehungskraft auch für junge Menschen zu haben. Es zieht der Mief einer Zeit durch diese Gasse, die man als extrem spießig und altbacken bezeichnen würde. Und vielleicht ist es genau dieser Mief, der mich nicht wirklich in Erregung bringt, für junge Menschen jedoch attraktiv erscheint. Es ist eine merkwürdige Verdrehung der Generationen, die mir deutlich wurde, als ich neulich bei Rot über die Ampel ging. Es handelte sich dabei um eine Straße, die durch eine Baustelle zur Sackgasse geworden war und wo die Regelung für die Fußgänger keinen wirklichen Sinn ergab. Ich überquerte also bei Rot die Straße. Zwei junge Menschen waren stehengeblieben, denn die Ampel zeigte Rot. Als ich einfach die rote Ampel missachtend weiterging, ging auch einer der jungen Leute los und meinte dann: „Die ältere Generation zeigt uns wie es geht.“ Ich fühlte mich durch diese Aussage geehrt. Und gleichzeitig dachte ich, wie verkehrt doch die Welt ist, dass ich junge Menschen bestärke, sich der Vernunft folgend zu verhalten und ein wenig gelebte Anarchie zu etablieren. Früher hatte ich den Wunsch, dass sich die Alten endlich nicht mehr nur nach den vorgegebenen Regeln verhalten, sondern ihr Handeln vernünftig überdenken. Jetzt war ich älter und die Jungen schienen mein Verhalten zum Vorbild zu nehmen. Eine verkehrte Welt, dachte ich. Mir fielen weitere Beispiele für diese Beobachtung ein. Junge Menschen hören die Musik, die ich früher gehört habe. Und auch bei der Kleidung ist es ähnlich, Retrolook ist in. Man könnte zum Schluss kommen, die Jugend hat nichts Eigenes.

Der verhaltene Exzess

Was ist nun dieses Gefühl, das mit der Drosselgasse verbunden sein könnte? Da ich solche Orte früher nie aufgesucht habe und auch heutzutage meist meide, fällt es mir natürlich schwer, mir eine Meinung dazu zu bilden. Nachdem ich die Drosselgasse jedoch ein zweites Mal in relativ kurzem zeitlichem Abstand besucht hatte, glaube ich, eine Idee dazu gefunden zu haben. Die Drosselgasse, wie auch andere Orte stehen für eine Auszeit. Man gab sich dort so, wie man es sich sonst nicht traute. Dass dies mit Hilfe von Alkohol geschah, ist nicht verwunderlich. Solche Orte sind daher oft auch in Weingegenden wie Ahr, Mosel oder Rhein. Die Drosselgasse dürfte der bekannteste Ort dieser Rubrik sein. Er war für die Generation der im oder kurz nach dem Krieg Geborenen auch ein Mekka der Befreiung gewesen. Sicherlich hatte Woodstock noch einmal ein anderes Feeling, weil es auch mit anderen Drogen als Alkohol verbunden war und die Woodstock-Generation andere Lebenserfahrungen gemacht und eben auch andere Beschränkungen erlebt hatte, doch in beiden Fällen ging es um einen Exzess. Und im Gegensatz zu Woodstock hat die Drosselgasse etwas mit Heimat zu tun. Die konkrete Heimat war für jene Generation wohl anders gelagert als für die Woodstock-Generation, denn hier war es eher die Beheimatung in der Gruppe.

Unbeschwert spießig

Während wohl niemand Woodstock mit Spießertum verbinden würde, liegt dies bei der Drosselgasse auf der Hand. Die Musik, und es handelt sich in der Drosselgasse um Live-Musik, hat natürlich nichts von Rock, Blues oder Friedensliedern, und doch scheint diese „Schlagermusik“, bei der getanzt werden kann - natürlich Standard - etwas Rebellisches zu haben. Der gemeine Spießbürger lässt alle Bedenken hinter sich und ergibt sich diesem miefigen, kitschigen und „normalen“ Leben. Er darf hier sein mit seinem Lebensstil, muss sich nicht schämen, weil die besseren Leute die Nase rümpfen könnten. Wer in die Drosselgasse geht, scheint genau dieses Gefühl dort zu genießen. Junge Menschen, die der Wirklichkeit oft sehr zynisch begegnen oder keine Unterschiede machen wollen, die Helene Fischer hören und überhaupt keine Schlagerfans sind, doch beim Feiern bei den Liedern mitgrölen wollen, haben nicht diesen Widerstand, den ich bei diesem Spießertum verspüre. Und mit dem Blick der jungen Generation kann auch ich erkennen, dass die Drosselgasse etwas von Revolution hat. Es ist nicht politisch im engeren Sinne zu verstehen, es geht um einen Lebenswandel, der etwas bewahren will, der sich gesellschaftlichen oder politischen Ansprüchen widersetzt. Ein politisches Programm lässt sich daraus kaum entwickeln. Und es ist umgekehrt durchaus fraglich, ob die Teilnehmer*innen in Woodstock politische Agitatoren waren und nicht doch zum großen Teil einfach nur Spaß haben wollten. Die Drosselgasse kann deutlich machen, dass im Bewahren-Wollen des Normalen und eines schlichten Gemüts auch etwas Umstürzlerisches enthalten sein kann. Nicht jeder oder jede will oder kann auf die Barrikaden gehen, Pamphlete verfassen, Demos besuchen und die Gesellschaft grundlegend verändern wollen. Bei der Notwendigkeit, angesichts von Klimakatastrophe, weltweiten Krisen, Globalisierung, der Monopolisierung von Unternehmen wie Amazon, Facebook usw. die Gesellschaften zu verändern und die Menschen zu einem umweltbewussten Verhalten zu führen, muss der Wunsch zum Normalen, der Hang zum Spießertum und das darin möglicherweise Rebellische mitbedacht werden. Der Spießer in der Drosselgasse lehnt sich gegen Fortschritt auf, er will bewahren, er möchte anschließen an das, was schon Generationen vor ihm als Lebendigkeit erlebt haben. Man muss deshalb nicht regelmäßig zur Drosselgasse oder ähnlichen Orten fahren, doch verachte man mir die Spießer nicht, manchmal spießen sie einen wichtigen Gedanken auf.


Kategorie: Analysiert

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