Foto: Christian Schnaubelt

Tief im Schacht - Freud im Kohlenpott

Die Psychoanalyse hat eine Adresse: Berggasse 19 in Wien. Hier wohnte Sigmund Freud und verließ diese Stadt erst 1938, um vor den Nazis nach London zu fliehen. Die Theorien dieses Nervenarztes sind stark geprägt von der Atmosphäre in Wien und den dort herrschenden Moralvorstellungen. Seine Patienten entstammten der Mittelschicht, die enge Vorstellungen von Sexualität hatten. Ein Sigmund Freud, der im Kohlenpott über die Tiefen der Seele geforscht hätte, wäre wahrscheinlich zu ganz anderen Ideen aufgestiegen.

Nirgendwo auf dieser Erde ist den Menschen wohl so deutlich bewusst – oder war bewusst, bevor die Zechen geschlossen wurden -, dass es unter der Erde ein reges Leben gibt. Die Männer fuhren ein und arbeiteten unvorstellbar tief im Inneren der Erde. Es gab ein Oben und es gab ein Unten, von dem man schwarz zurückkam. Täglich wurde den Bergleuten bewusst, dass denen da oben nur schwer zu vermitteln war, wie es dort unten ist. Man konnte von seiner Arbeit als Bergmann erzählen, doch ansatzweise verstehen konnten es die da oben erst, wenn sie mal als Gast mit nach unten genommen wurden. Im Kohlenpott wäre die Idee vom Unbewussten, das sich in der Tiefe der Seele befindet, auf ein großes Verständnis gestoßen. Die Psychoanalyse wäre allerdings eine ganz andere geworden.

Schwarzes Gold

Siggi, wie man Freud aufm Pütt genannt hätte, wäre bei seinen Tiefenbohrungen im Kohlenpott kaum auf den Todestrieb gekommen. Dort unten gibt es den Tod als ständigen Begleiter. Der Bergmann weiß, dass er sich auf die anderen verlassen können muss, um die Schätze aus der Tiefe abzubauen. Es ist nicht die Angst vor dem, was man findet, sondern dass man beim Finden den Tod herausfordert. Und wenn die Bergleute etwas aus der Urzeit finden, dann ist das ein freudiges Ereignis.

Was will die Frau?

Siggi hätte herausgefunden, dass die Bergleute eine ganz besondere Beziehung zu Frauen haben. Immer wenn sie einfahren, machen sie sich auf in den Schoß der Mutter Erde.  Für Ödipusgeschichten haben die Bergleute allerdings keinen Sinn, sie haben die Heilige Barbara. Sexualität mit der Heiligen Barbara in Verbindung zu bringen ist genauso undenkbar wie mit der Mutter. Das Leben der Bergleute ist konkret, sie fahren ein und wenn Siggi ihnen das gedeutet hätte,  hätte er einen Spruch reinbekommen und wäre für immer verstummt. Siggi wäre geneigt gewesen, Johann Jakob Bachofen zu lesen und sich mit dem Matriarchat zu beschäftigen, was er in Wien verweigert hat. Seine Frage wäre nicht gewesen „Was will die Frau?“. Die Frage der Bergleute ist, bringt die Frau den Henkelmann und ist am Sonntag um 13:00 Uhr das Essen auf dem Tisch? Die Herrschaft der Frau gilt als akzeptiert, doch unter Tage gilt der Mann noch als Mann.

Nackt in der Kaue

Der Bergmann kennt so etwas wie Körperfeindlichkeit gepaart mit moralischen Verboten nicht. In der Kaue sind alle nackt. Den nackten Tatsachen schaut man tagtäglich ins Gesicht. Es hat nichts Besonderes, weil es normal ist. Sublimierung ist für den Bergmann ein Quatsch. Rauf auf die Mutti und fertig aus. Und wenn sie nicht will, dann ist das so. Am nächsten Tag geht es wieder runter und die Witze werden erzählt, ungestört und unzensiert, weil keine Frau zuhört.

Trauma statt Traumdeutung

Siggi probierte Kokain, im Kohlenpott hätte man nicht gewusst, was es damit auf sich hat. Hier flossen Bier und Schnaps. Und Siggi hätte nach einigen Pinnchen den Mund zu voll genommen, gestänkert und ordentlich eins aufs Maul bekommen. Keine Traumdeutung wäre die Reaktion gewesen, sondern die Versorgung der Wunden.

Die schwarze Psychoanalyse

Es ist ein Gedankenspiel und rein spekulativ. Doch es hat seinen Reiz, sich Sigmund Freud im Kohlenpott lebend vorzustellen und davon ausgehend zu überlegen, ob Freud seine Psychoanalyse so entwickelt hätte, wie er es in Wien getan hat. Mit großer Sicherheit lässt sich vermuten, dass die stark mittelschichtorientierte Psychoanalyse im Kohlenpott auf ein anderes Maß zurückgeschnitten worden wäre. Freud hätte in der Therapie konkreter und handlungsorientierter vorgehen müssen. Aber auch seine Theorien wären aufgrund der Lebenswelt pragmatischer geworden. Das Unbewusste wäre nicht zum Thema geworden, da es durch das unmittelbare Erleben unter Tage zu nah gewesen wäre. Freud hätte es anders bezeichnen müssen. Das Bild des Eisbergs wäre nicht überzeugend gewesen. Die Abarbeitung an dem, was passiert, wenn man im Förderkorb aus der Tiefe ans Tageslicht kommt, hätte Freud abarbeiten müssen. Das „Unbewusste“ ist für den Bergmann kein unbekannter Ort. Die Frage ist eher, wie es sich auswirkt, wenn man die Hälfte des Tages oder länger in einer solchen Welt lebt und arbeitet? Psychoanalyse aus dem Kohlenpott hätte auch schon gar nicht diesen Namen bekommen. Es wäre das, was der Seelenklempner so meint. Man hätte es angenommen, weil es halt der Doktor sagt.   


Kategorie: Entdecken

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