,Heiligblutaltar Rothenburg, Foto: hinsehen.net

Seelenkunde = Emotionskunde

Die Seele ist dem Geistigen näher als der Körper. Sogar soll der Verstand den Körper regieren. Um das Regierungshandeln des Verstandes auf solide Füße zu stellen, betreiben wir Wissenschaft. Mit dem Effekt, dass die Wissenschaft uns zeigt, dass die Emotionen entscheiden. Werden wir dann doch von unseren Gefühlen gesteuert? Hans Goller geht diesem Rätsel nach und zeigt, dass gerade Therapiekonzepte die Emotion ernst nehmen.

 

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Wenn wir uns selbst und andere verstehen wollen, dann sind es die Emotionen, für die wir uns interessieren. Auf den ersten Blick erscheinen die Emotionen wie eine körperliche Reaktion. Auf jeden Fall werden sie nicht vom Verstand gesteuert, denn sie kommen, wann sie wollen und nicht, wenn unser Verstand es für gut findet, emotional zu sein. Emotion, das zeigt Goller im "Rätsel Seele", grundiert unser Leben als Gefühl, S. 142 f. Unser Ich, und damit doch die Seele, spürt Wärme und Kälte, Akzeptanz und Schaffensfreude. In allem "steckt" das Ich; "ich weiß", dass ich mich wohl fühle, Hunger habe, im Zug sitze. Das Grundgefühl ist immer mit meinem Ich verbunden. Das deutet darauf hin, dass Seele und Leib sehr nahe zusammen gehören. Unser Erleben ist immer zugleich das meines Ichs wie meines Körpers. Goller zeigt im letzten Teil des Buches, dass eine unsterbliche menschliche Seele nicht ohne Körper gedacht werden kann.

Emotionen liegen dem Verstand voraus

Unser Ich "denkt" sich nicht zuerst. So hatte es Descartes als neue Grundlegung der Philosophie formuliert. Weil das Ich denkt, muss es auch existieren. Jedoch dieser denkerischen Folgerung liegt mein Grundgefühl voraus. Ich fühle mich und meine Existenz, bevor ich darüber nachdenke und aus diesem Denken folgere, dass es mich ja geben muss. Vorher weiß ich, dass ich es bin, der das denkt. Mit diesem Grundgefühl ist immer die Ich-Perspektive verbunden. Ob ich fühle oder denke, immer ist mir mein Ich gegenwärtig, es ist immer Ich, der überlegt, sich ärgert, etwas vorhat. Diese ständige Präsenz meines Ich', die sogar bis in die Träume reicht, konstituiert unser Bewusstsein. Ich bin mir ständig meiner bewusst und sehe, schätze ein, betreibe etwas aus meinem Ich heraus. Dieses Bewusstsein kann niemand von außen einsehen. Wenn ich nicht darüber Auskunft gebe, bleibt es anderen unzugänglich. Es zeichnet sich auch nicht die Möglichkeit ab, dass einmal eine Weiterentwicklung des Computertomographen sich Zugang zu unserem Ich verschaffen könnte. Im Gehirn hat man bisher auch kein Ich-Zentrum gefunden. Dass es auch nicht im ganzen Hirn verteilt ist, zeigen Operationen, die früher an Epilepsiepatienten durchgeführt wurden. Man durchtrennte die Verbindung zwischen den Hirnhälften. Es entstanden damit kein zwei „Ichs“, sondern die Operierten hatten weiterhin nur ein Ich-Bewusstsein. S. Goller 125f.  Das ist deshalb prinzipiell nicht möglich, weil ein solches Messgerät nur Physikalisches messen kann. Aber was sollte physikalisch an dem Ich-Bewusstsein zu entdecken sein, außer dass Hirnströme fließen.

Emotion - Kraft zu entscheiden

Wenn das Ich Herr im Hause bleiben soll, dann muss es das Umfeld des Hauses gestalten. Ansonsten drängen alle möglichen Kräfte durch die Tür. Durch Handeln nimmt das Ich Einfluss auf die Anderen und zwingt diese, zu reagieren. Selbst wenn die Tür verschlossen bleibt, werden die anderen zur Reaktion herausgefordert, zumindest machen sie sich Gedanken, was mit "dem hinter der Tür" eigentlich los ist. Wer seinen Radius nicht bei seinem Bücherregal enden lässt, muss "vor die Tür". Aber er kann noch so viel überlegen, die Kraft zum Handeln kommt nicht aus dem Denken. Goller zeigt das an einem Fall auf. Nach einer Hirnverletzung kann jemand alle Handlungsalternativen durchdenken, aber er kommt nicht zu einer Entscheidung. Diese Passagen sollte man in dem Buch unbedingt lesen, S. 145f.  Sie helfen weiter, wenn wir mit Menschen zu tun haben, die nur schwer oder gar nicht zu einer Entscheidung kommen. Diese Beobachtung lässt sich sehr gut mit dem Therapiekonzepte von Charles Rogers verknüpfen. Sein Therapiekonzept, S. 90-102, zielt darauf, emotionale Barrieren durch Zuhören und Verarbeitung der Emotionen aufzulösen und den Klienten so zu heilen.

Emotionen kultivieren

Die bestimmende Kraft der Emotionen erfordert ihre Pflege. Das folgt logisch aus den Erkenntnissen der Wissenschaft, die Goller knapp und übersichtlich zusammenstellt. Die Emotion will gelebt werden. Es hat auch keinen Sinn, sie zu unterdrücken. Sie muss ihre Energie verbrauchen, sonst bleibt sie im Körper, wirkt auf den Blutdruck und wahrscheinlich schwächt sie auch die Immunabwehr. Zudem gehören die Emotionen zu uns, das Glücksgefühl wie der Ärger. Emotionen erzwingen allerdings noch keine Entscheidung, es ist meinem Ich aufgeben, etwas mit ihnen zu machen. „Ich“ kann innerlich aufbrausen, aber ich muss dann nicht den anderen anschreien. Vielmehr kann ich für Abstand sorgen, um auch den Blick auf mich zu richten. Einen Anteil an einem Ärger habe ich meistens auch. Menschen reagieren auf mich und sind dabei in der Regel nicht verständnisvoller gegenüber mir als ich ihnen gegenüber.
Emotionen beeinflusse ich weniger durch den Verstand als durch andere Emotionen. Das ist sogar mit Sympathikus und Parasympathikus eingebaut. Der Parasympathikus sorgt für den Abbau von Stress. Wenn ich zu sehr Sympathikus lebe, also Stimulierung suche, dann werden auch die Stresshormone ausgeschüttet. Es kann auch nicht die Erregungssuche, sondern ein Grundgefühl von Enttäuschung und Unzufriedenheit meine Emotionen steuern und damit auch meine Reaktionen, ob ich empfindlich oder gelassen auf Fehlleistungen und geringe Höflichkeit anderer reagiere. Meine Grundstimmung hängt zu einem guten Teil nicht von meinen aktuellen Gefühlen ab, sondern ob ich Dankbarkeit in mir pflege, ob ich trainiere, erst das Positive zu sehen. Auf die Dauer ist die Einstellung am wirksamsten, wenn ich aus jeder Situation etwas Positives mitnehmen will. Zumindest kann ich immer etwas lernen. Dann zeigen sich Konflikte und Niederlagen als die produktivsten Erfahrungen. Denn wenn alles glatt läuft, kann ich nicht viel lernen.

In meinen Gefühlen bin ich ganz Ich

Emotionen, meine Gefühle gehören mehr zu mir als meine Gedanken. Das gilt vor allem für die Religion. Der produktive Umgang mit meinen Gefühlen entscheidet, ob Menschen mich aushalten wollen. Ohne Kultivierung meiner Emotionen komme ich nicht zu guten Entscheidungen. Wenn ich Gefühle unterdrücke, fällt es mir zunehmend schwerer, noch Entscheidungen zu treffen. Während andere für mich denken können, kann mir niemand die Kultivierung meiner Emotionen abnehmen. Denn nur mit meinen Gefühlen bin ich ganz Ich.

Hans Goller, das Rätsel Seele


Kategorie: Entdecken

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