Bei einem Besuch in Warschau nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 erklärte uns der ukrainische Chefredakteur der Kirchenzeitung, dass die Zukunft Europas sich daran entscheide, ob sich die Ukraine nach Osten oder nach Westen orientiere. Ich habe das damals nicht verstanden. Ich sah die Ukraine von Russland her und nicht als eigene Nation mit ganz anderen Vorstellungen, wie ein Staat funktionieren sollte. Durch Besuche und dann mit dem Studium der Geschichte der Ukraine wurde mir erst klar, dass die Ukraine zwischen West und Ost hin und her gerissen ist, sich aber auf Grund der russischen Aggression für den Westen entschieden hat. Das Paradox: Russland will die Ukraine nicht dem Westen überlassen, treibt sie aber den USA und inzwischen auch Europa in die Arme. Das zeigen die Nachrichten seit Februar 2022 überdeutlich, seit dem Truppeneinsatz im Donbass schon seit März 2014. Diese gegensätzliche Orientierung erklärt sich jedoch erst aus der Geschichte. .
Russland hat bestimmt, wie der Westen die Ukraine gesehen hat
Während der letzten 300 Jahre gehörte die Ukraine nicht nur aus Sicht der Russen zu Russland, sondern wurde auch vom Westen so gesehen. Dass der Westen des Landes erst ab 1939 zur Sowjetunion gehört – mit deutscher Hilfe – erklärt, warum die Westorientierung der Ukraine vomWesten desLandes ausging. Die war bis 2010 nicht eindeutig. Dass sich die Westorientierung auch im Osten des Landes durchsetzte, ist wesentlich durch die Annexion der Krim und russische Truppen im Donbass bedingt.
Da die Ukraine anstelle von Russland für Investitionen von Unternehmen aus der EU infrage kommen wird und Europa daher dieses Land verstehen muss, werden die Dynamiken, die sich aus der Geschichte herleiten, im Folgenden dargestellt. Es ist keine gradlinige Entwicklung, zumal sie auch mit einer Russland-Orientierung des Landes hätte weitergehen können. Wir müssen die bisherige Wahrnehmung der Ukraine in einen anderen Rahmen stellen, um einmal diesen Krieg zu verstehen und zum anderen, warum die Ukraine nicht zu besiegen ist.
Warum die Ukraine im toten Winkel westlicher Augen lag
Russland wurde als Absatzmarkt für westliche Technik und als Energielieferant behandelt. Es will jedoch wie unter Stalin wieder eine weltbestimmende Großmacht sein. Daher kann es sich nicht als Teil der EU noch als Mitglied der NATO verstehen. Die Rehabilitation Stalins ist deshalb möglich und in Bezug auf dieses politische Ziel auch notwendig, weil er nicht wie Hitler den Krieg verloren, sondern Russland zur Weltmacht geführt hat. Die Sowjetmacht, von den Russen dominiert, herrschte nach dem gewonnen Zweiten Weltkrieg auch über die osteuropäischen Staaten. Das war den Zaren noch nicht gelungen. Moskaus Ziel, wieder als Großmacht auf der Weltbühne präsent zu sein, verlangt jedoch keine „militärische Spezialoperation“. Russland könnte wie China durch Forschung, Ingenieure und dadurch ermöglichte Produktionsfortschritte, also durch wirtschaftliche Dynamik seine Rohstoffexporte aufwerten. Die heutige Führungsschicht Russlands wählt wie die Zaren und ihr Nachfolger Stalin die militärische Überlegenheit. Die gibt es aber auf Dauer nur, wenn man auch die überlegenen Waffen hat.
Hungertod und Liquidierung der Intellektuellen
Ohne die 43 Millionen Ukrainer müssen die Russen ihre Großmachtträume begraben, nicht zuletzt deshalb, weil Stalin so viele Landsleute in den Tod geschickt hat und 1937/38 die Intelligenz wie auch die Führungskräfte der Partei nach großen Schauprozessen hinrichten ließ. Zum eigentlichen Trennungsgrund wurde die von Stalin erzwungene Kollektivierung der Landwirtschaft, die mit dem Tod von über 3 Millionen Ukrainern durchgesetzt wurde. Als wegen der Kollektivierung und verschärft durch Missernten die Erträge erheblich zurückgingen, wurde für die Ernährung der Städter wie für den Export der Eigenbedarf der Bauern beschlagnahmt. Mehr als 3 Millionen Ukrainer verhungerten. Diese Maßnahme, die 1932 ihren Höhepunkt erreichte, wird mit Recht als Völkermord bezeichnet, weil so der Widerstand der Bauern gegen die Kollektivierung gebrochen wurde. Der Holomodor, „Tötung durch Hunger“, wurde durch die militärische Spezialoperation 2022 wieder ins Gedächtnis zurückgerufen. Die Bevölkerungsverluste wirken in der Ukraine wie in Russland über Generationen fort. So geht die Bevölkerungszahl der russischen Föderation zurück. Anders die USA, die die besten Köpfe, die aus den Diktaturen geflohen waren, angezogen hat. Hollywood, neben Jazz und Rock n Roll erfolgreichstes Exportprodukt der USA, wurde von den Juden aus der Westukraine nicht in Russland, sondern in den USA aufgebaut. Heute hat jeder Jugendliche in der Ukraine ein Handy und trägt Jeans. Sie sehen sich als Erben der Kosaken, nicht des Zarenreiches.
Die freien Kosaken brauchten den russischen Zaren als Schutzmacht
Aus russischer Sicht hat Putin recht, dass er gegen die Ausdehnung des Westens auf Gebiete kämpft, die eigentlich zu Russland gehören müssten. Aber es ist nicht zuerst der Westen, der die Ukraine immer mehr von Russland weglenkt, kulturell und in Bezug auf die politische Ordnung. Auf die militärische Bedrohung reagieren heute die Ukrainer so wie die Grenzwächter sich ab dem 13. Jahrhundert gegen die Mongolen stellten. Die Ukraine ist nicht von Moskau aus gegründet und entwickelt worden, sondern leitet sich von einer Kosakenrepublik her. Deren Gründungs-Gene sind, anders als im Moskauer Großfürstentum, demokratisch. Die Kosaken hatten einen Rat – Kolo, und wählten als Anführer den Hetman, der auch wieder abgewählt werden konnte. In Russland war das Fürstentum erblich und nicht vom Volk übertragen. Das politische Umfeld im 17. Jahrhundert drängte allerdings die entstehende Ukraine in Richtung Moskau. Denn um gegen das damals übermächtige Litauen-Polen Unterstützung zu erhalten, stellte sich die entstehende Republik 1654 unter den Schutz des Zaren, behielt aber das Hetmanat bei. Erst seit Peter d.Gr. wurde die Ukraine schrittweise in die entstehende staatliche Struktur Russlands integriert und von Katharina d.Gr. 1764 in drei Gouvernements gegliedert. Erst zu diesem Zeitpunkt wurden russische Garnisonen eingerichtet und die Eigenverwaltung der Kosaken, das Hetmanat, mit dem eigenen Anführer, dem Hetman, abgeschafft.
Die Nationalbewegungen im 19. Jahrhundert
Das heutige Verständnis, eine Nation zu sein, entwickelte sich allerdings erst im 19. Jahrhundert. Ein entscheidender Faktor ist dafür die Sprache. Da die Städte der Ukraine mehrheitlich von Russen, Polen, Juden, Armeniern bewohnt waren und das Ukrainische vom Zaren als Sprache verboten wurde, schrieben ukrainische Schriftsteller wie Gogol in russischer Sprache. Auch die universitäre Ausbildung führte zu einer Übernahme des Russischen. Eine Ausnahme macht Taras Schewtschenko, 1781-1825. Er schrieb in Ukrainisch und hat mit seiner Dichtung dazu beitragen, dass sich das Ukrainische zur heutigen Schriftsprache entwickelte. Von ihm sind in mehreren Städten Denkmäler errichtet worden. Er wurde nach Sibirien verbannt, weil die Regierung des Zaren von seinen Werken eine starke Unterstützung der ukrainischen Nationalbewegung befürchtete.
Die Ukraine in der Sowjetunion
Am Ende des Ersten Weltkrieges, unter deutscher Besatzung und durch den Zusammenbruch des Zarenreiches ermöglicht, gab es für einige Monate einen eigenen ukrainischen Staat, der nach Abzug der deutschen Truppen von der Roten Armee besetzt wurde. Die Bolschewiken billigten der Ukraine wie auch Kasachstan, Belarus und den zentralasiatischen Republiken ein eigenes Parlament und eine Regierung zu, so dass diese eine gewisse Staatlichkeit erlangten. Dieser Staat stellte an die von Gorbatschow regierte Sowjetunion den Antrag, diese zu verlassen. Als Gorbatschow gefangen gesetzt wurde, konnte dieser Austritt realisiert werden. Als dann auch Russland und Belarus ihre Mitgliedschaft in der Sowjetunion kündigten, gab es die Sowjetunion nicht mehr. Damit war die Westorientierung der Ukraine allerdings noch nicht vorgegeben. In einem Staatenbund, der in der GUS, der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten im Dezember 1991 entstand und in Minsk seinen Sitz hat, wäre die Ukraine wahrscheinlich geblieben. Allerdings gab es, anders als in Belarus eine Bevölkerungsgruppe, die immer auf Distanz zu Moskau geblieben war. Damit sind wir im Westen der heutigen Ukraine angelangt, denn diese wurde erst ab 1939 russisch.
Die Westorientierung der Westukraine
Lemberg mit Galizien und Czernowitz mit der Bukowina sind erst 1939, mit deutscher Hilfe, zu Russland gekommen. Sie gehörten bis zum Ersten Weltkrieg zum Habsburger Reich und dann zu Polen. Hitler hat diese kulturell hochinteressanten Gebiete im Hitler-Stalinpakt Russland zugesprochen. Hier gab es nie eine Orientierung in Richtung Russland. Ehe das Gebiet im Zusammenhang mit der Teilung Polens unter die Herrschaft der Österreichs-Ungarns kam, war es von einer anderen Doppelmonarchie, der Polen-Litauens besetzt. Der südliche Teil, das Gebiet der heutigen Ukraine, gehörte zum polnischen Teil des Reiches, während das heutige Belarus im litauischen Einflussbereich lag. 1569-1795 bestand diese Herrschaft. Kriege und Aufstände verschoben jeweils die Grenzen.
Das Katholische dieser Besatzungsmacht wurde als fremd empfunden. Die Kosaken, erprobt im Kampf gegen die Mongolen/Tataren, standen 1648 gegen die polnisch-litauische Herrschaft auf und entschieden sich damit für die Orthodoxie. Unterstellten sie sich damals Moskau, um gegen Polen-Litauen nicht unterzugehen, steht Polen heute an der Seite der Ukraine, damit diese nicht von Russland überrollt wird.
1939 fängt die Niederlage Putins an, denn die Westukrainer konnten im Sowjetsystem nie heimisch werden. Stalin setzte nämlich seine „Säuberung" hier fort, indem er die intellektuelle Führungsschicht umbringen oder nach Sibirien deportieren ließ. Auch verfolgte er die orthodoxe Kirche in diesen Gebieten, die mit Rom unierte Griechisch-Orthodoxe Kirche, die in Lemberg ihren Erzbischof hatte. In der Westukraine blieb der Wille ungebrochen:
Nie wieder Sowjetsystem, das Putin in den Augen inzwischen aller Ukrainer dem Land überstülpen will. So entschieden westorientiert war die Ostukraine bis 2013 nicht. In den Wahlen bis 2010 wechselte die Mehrheit jeweils zwischen Ost- und Westukraine. Janukowytsch 2010-2014 stand für eine enge Anlehnung an Moskau, sein Vorgänger Juschtschenko 2005-2020 kam zwar nicht aus der Westukraine, fand da aber die meiste Unterstützung. Die “gelbe Revolution“ 2004 gegen die Wahlfälschung ging von der Westukraine aus. Mit der Annexion der Krim und der Abtrennung von Teilen der Ostukraine hat Putin, so die Aussage einer gebürtigen Russin, die beiden Teile des Landes geeint, wie es keinem der ukrainischen Präsidenten vorher gelungen sei. Das war auch eine kulturelle Herausforderung. Denn der russischsprachige Osten wies die von den jeweils westlich orientierten Präsidenten erzwungene Einführung des Ukrainischen als Amtssprache zurück – bis zur Annexion der Krim und der Besetzung des Donbass im März 2014. Russisch galt als die dem Ukrainischen überlegene Kultursprache, Ukrainisch war in den Augen der Russen und vieler Russischsprachiger in der Ostukraine nur ein ländlicher Dialekt. Kultur wurde mit der russischen Sprache gleichgesetzt.
Der Majdan brachte die endgültige Westorientierung
Die Vertreibung des russlandfreundlichen Präsidenten Janukowitsch begann im November 2013, als dieser seine Unterschrift von dem von ihm ausgehandelte Assoziierungsabkommen mit der EU zurückzog - auf Druck Moskaus. Die Studenten sahen sich um ihre Zukunft betrogen. Die Proteste wurden anfangs von der Westukraine unterstützt. Erst langsam erkannte die Ostukraine, dass es in Kiew um mehr als die Unzufriedenheit einiger Studenten ging.
Die Westorientierung liegt für die Ukraine näher
Während die Öffnung gegenüber dem Westen für Russland nach der Regierungszeit Peters d.Gr. und Katharina d.Gr. ihre Protagonisten verloren hatte, blieb das Hetmanat gegenüber dem Westen offen. Zudem lebten in den sich entwickelnden Städten der Ukraine neben den Ukrainern Polen, Armenier, Juden, Deutsche, so dass die Ukrainer nur etwa ein Viertel der Stadtbevölkerung ausmachten, während die Dörfer weitgehend von Ukrainerin bewohnt waren.
Auch eine Niederlage für die Orthodoxie
Orthodox zu sein gehört zur russischen Identität. Man muss nicht von der Existenz Gottes überzeugt sein, um sich mit der Orthodoxie zu identifizieren. Das macht deutlich, was für die Russisch-Orthodoxe Kirche auf dem Spiel steht, wenn Russland aus diesem Krieg als Verlierer hervorgeht. Verloren hat das Moskauer Patriarchat auf jeden Fall seine Gemeinden in der Ukraine. Gegen diese führt es faktisch Krieg, denn diese Gemeinden leben schwerpunktmäßig im Kriegsgebiet. Über 100 Kirchen sind bereits zerstört.
In den Jahren von Putins Herrschaft hat sich Russland gegen den Westen positioniert, während die Ukraine sich bereits nach den Protesten 2013/14, der Annexion der Krim und dem seit März 2014 herrschenden Kriegszustand im Donbass gegen Russland für den Westen entschieden. Auch wirtschaftlich gibt es für die Ukraine keinen Grund, sich an Russland zu binden und die Beziehungen zum Westen herunterzufahren. Putin stand damit kein anderes Mittel zur Verfügung, als die russischen Panzer und die Artillerie in Gang zu setzen. Dass die russische Führung allerdings einem Wunschdenken aufgesessen ist, zeigt sich an der entschlossenen Reaktion der Ukrainer. Das hatte gegen die Westtendenzen Georgiens funktioniert, überlegen sind auch die Truppen Russlands in Syrien. Die Annexion der Krim ging auch über die Bühne. Dass die Ukraine nicht vor den Panzerkolonnen in die Knie gehen würde, war nicht nur für die russischen Generäle kaum absehbar, sondern auch für die russische Bevölkerung. Seit 300 Jahren war es immer fraglos, dass sie sich gegen die Ukraine durchsetzen werden. Dass der Krieg inzwischen auch einer zwischen den USA und Russland geworden ist, indem die Ukrainer mit ihrer moderneren Strategie und Taktik westliche Waffen bedienen, sollte auch klar sein. Entschieden wird der Krieg dadurch, ob die russischen Soldaten den geschichtlichen Auftrag übernehmen, zu Russland gehörendes Territorium zurückzuholen. Das entscheidet nicht die Zahl der Kämpfenden, sondern die Kampfmoral.
Rückschau auch für Deutsche angesagt
Deutschland wollte die Niederlage im Ersten Weltkrieg zurechtrücken, um mit dem Zweiten Weltkrieg auch wieder Großmacht zu werden. Das Reichsgebiet sollte bis zum Ural ausdehnt und von Germanen besiedelt werden. Die jungen Deutschen sind damals siegessicher in den Krieg gezogen. Der Ukrainekrieg jetzt sollte bei uns nicht in Emotionen gegen Russland steckenblieben. Was wir beobachten und oft großspurig verurteilen, haben wir selbst auch gemacht. Deshalb sollten wir uns im Rückblick die Frage stellen, was die jungen Deutschen, die im September 1941 siegesgewiss in den Krieg zogen, eigentlich mit dem eroberten Land machen wollten. Die Frage stellt sich auch den Russen: Was hätten sie mit 43 Millionen Ukrainern vorgehabt, wenn sie das Land erobert hätten? Russland braucht eine Idee für die nächsten 20 Jahre. Die Ukraine hat sie.
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