Pro Jahr kommt es in Deutschland etwa zu 100 – 200 Stammzellenspenden durch Geschwister. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Geschwisterteil als Stammzellenspender in Frage kommt, liegt bei 25%. Je mehr Geschwister man hat, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, einen passenden Spender unter den Geschwistern zu finden – in der Theorie, denn eine Patientin, mit der ich mir in meiner ersten Woche auf der onkologischen Station ein Zimmer teilte, hat fünf Geschwister, von denen leider keiner als Spender in Frage kam. Dass mein einziger Bruder eine 100%ige HLA Übereinstimmung aufweist, ist ein 6er im Lotto. Anhand der HLA-Merkmale, human leucocyte antigen, wird die genetische Übereinstimmung gemessen. Jeder Mensch hat zehn dieser für die Stammzellenspende relevanten Merkmale, davon fünf vom Vater und fünf von der Mutter. Ein perfektes Match wäre also eine 10/10. Und genau das war mein Bruder für mich.
Eine große Tat
Eine Stammzellenspende ist an sich schon eine große Tat, gibt sie jemandem schließlich die Chance auf Leben. Wie viel größer ist diese Tat dann, wenn der Spender panische Angst vor Spritzen und Nadeln hat und bereits bei der Blutabnahme zur Typisierung fast kollabiert? So erging es nämlich meinem Spender. Allein der Gedanke an Blutabnahme oder eine Untersuchung im Krankenhaus sorgt bei meinem Bruder für Schweißausbrüche. Daher hatte er sich nach der Voruntersuchung auch dazu entschieden, die Stammzellenentnahme aus dem Knochenmark anstatt, wie mittlerweile in 90% der Fälle üblich, aus dem peripheren Blut entnehmen zu lassen, da ihm so sieben Tage Aufbauspritzen zur Anreicherung der Stammzellen im Blut erspart blieben und er von der Entnahme selbst nichts mitbekommen musste. Auch wenn ich seine Phobie vor Spritzen immer belächelt habe und mir den ein oder anderen spitzen Kommentar nicht verkneifen konnte, weil schließlich ich diejenige mit dem größeren Leidensweg bin, ist meine Dankbarkeit umso größer, gerade weil er es trotz seiner Angst durchgezogen hat.
Tag 0
Eigentlich hätte meine Stammzellentransplantation bereits im Januar stattfinden sollen. Da ich eine Woche vor dem Termin aber Corona positiv getestet wurde und es zu riskant gewesen wäre, mein System in diesem Zustand zu resetten, wurde der „Tag 0“ auf Mitte Februar verschoben. Am langersehnten Tag war emotional und gedanklich viel los: eine Mischung aus Freude, Anspannung und Rastlosigkeit. Am morgen gingen die ganzen „Ich drücke die Daumen“-Nachrichten ein. Ob ich denn wisse, wann ich das Transplantat bekomme? Da ich es nicht wusste, habe ich mich wie ein Kind an Heiligabend gefühlt, das darauf wartet, dass die Geschenke endlich unterm Baum liegen. Als das Transplantat dann am frühen Nachmittag in der Klinik eintraf, war es weitaus unspektakulärer als ich erwartet hatte. Ich hatte keine Fanfaren und Trompeten erwartet, aber schon gehofft, dass mich diese immense Bedeutung, die sich in dem Transfusionsbeutel befand, irgendwie mehr aus dem emotionalen Gleichgewicht wirft. Mein „Tag 0“ ist übrigens der 15. Februar 2024; einen Tag nach Valentinstag. Und einen größeren Liebesbeweis, als den, den mein Bruder mir in diesem Jahr geschenkt hat, kann es gar nicht geben.
Nicht der Rede wert
Mein Spender will jedoch keine große Sache daraus machen. Jedes Mal, wenn ich oder meine Eltern sich bedanken wollen, sagt er „Du musst mir nicht „Danke“ sagen“. Schon als klar war, dass er als Spender in Frage kommt, wollte er die ganze Sache nur schnell hinter sich bringen und danach am besten nicht mehr darüber reden. Da ich weiß, dass mein Bruder nicht gerne über seine Gefühlswelt und Emotionen spricht, frage ich auch nicht weiter nach, was diese Spende für ihn bedeutet und was es mit ihm emotional gemacht hat. Ob er sich selbst als Held fühlt, kann ich nicht sagen, meinen beiden Nichten habe ich jedoch voller Stolz erklärt, dass mich erst das Blut von ihrem Papa so richtig gesund macht und mich vor den bösen Krebszellen beschützt. Auch wenn es für ihn selbstverständlich war, seiner Schwester mit dieser Spende zu helfen, so möchte ich schon, dass er die Anerkennung für diese große Geste bekommt.
Auf ewig dankbar
Was nicht bedeutet, dass ich mich bei jeder Gelegenheit bei ihm bedanken möchte. Natürlich werde ich ihm auf ewig dankbar sein und das auf eine Art, die ich gar nicht in Worte fassen kann. Denn ein einfaches „Danke für deine Stammzellen“ wirkt geradezu lächerlich angesichts der Bedeutung, die diese für mich haben. Selbst eine Einladung in ein teures Steak-Restaurant als Kompensation für das Blut, das er für mich gelassen hat, erscheint mir nicht genug. Wie bedankt man sich bei jemanden, der einem die Chance auf ein gesundes Leben ermöglicht? Kann man je eine Gegenleistung dafür erbringen?
Gleichzeitig bleibt mein Lebensretter auch weiterhin mein Bruder, den ich auch in Zukunft für Kleinigkeiten aufziehen und zurechtweisen möchte, wie das Geschwister nun mal so tun. Von ihm ich erhoffe mir wiederum auch weiterhin Kommentare zu meiner Besserwisserei erhoffe. Ich bin in dieser Hinsicht emotional ein wenig hin und her gerissen. Denn auf der einen Seite möchte ich nicht, dass sich etwas an unserer Beziehung ändert, auf der anderen Seite wünsche ich mir, dass uns dieses Erlebnis emotional enger zusammenschweißt.
Gemeinsamer Geburtstag
Viele Stammzellenpatienten bezeichnen den Tag 0 als ihren „zweiten Geburtstag“. Ich tue mich ein wenig schwer mit dieser Vorstellung, hätte ich für einen zweiten Geburtstag doch ein zweites Mal geboren werden müssen. Faktisch gesehen ist mein neues Immunsystem zwar auf dem Stand eines Neugeborenen, dennoch betrachte ich die Stammzellenspende als „Great Reset“ meines Systems. Dennoch möchte ich den 15. Februar künftig nicht unbeachtet an mir vorbeiziehen lassen, sondern ihn schon auf eine besondere Art und Weise begehen. Aber nicht als meinen „Geburts-Tag“, stattdessen als einen Tag, der sowohl mir als auch meinem Bruder gewidmet ist und diese besondere Verbindung feiert.
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