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Meinung oder Stimmung

Was ist eine Atmosphäre? Wie kann man eine Stimmung beschreiben? Entwickelt sich aus einer Stimmung eine Meinung? Und kann man das Ergebnis überhaupt als eine Meinung bezeichnen? Oder lassen sich Meinungen durch den Einfluss auf Atmosphären manipulieren? Was macht die Macht einer Atmosphäre aus?

Der Soziologe Heinz Bude bestimmt Stimmung als eine Realität eigener Art. Man kann sich einer Stimmung nur gegenüberstellen, man ist ein Teil der Stimmung, die Stimmung ergreift den Menschen. Und Stimmungen können zum Beispiel Finanzmärkte zum Absturz bringen. Politik ist auf Stimmungen angewiesen. Wähler entscheiden sich oft erst kurz vor dem Gang zur Urne und folgen einer Stimmung. Was genau diese Stimmung ist und wie sich konkret eine Stimmung entwickelt, kann nur schwer bestimmt werden. Zwar gibt man sich gerne einer schönen Stimmung oder Atmosphäre hin, doch gleichzeitig haben viele Menschen Angst, dass sie von einer Atmosphäre ergriffen werden. Gerade im deutschen Sprachraum sind die Begriffe Stimmung und Atmosphäre quasi kontaminiert, sie sind konnotiert mit nationalsozialistischen Bildern. Menschen fühlen sich negativ berührt, wenn sie Massen erleben, die wie eine homogene Einheit funktionieren und Einzelne mitreißen. Die Nazis waren genial darin, Stimmungen zu erzeugen. Dem Einzelnen konnte eine Meinung eingetrichtert werden, Stimmung und Meinung verschwimmen miteinander. Wir unterscheiden Meinungen, die durch eine Geistesleistung entstanden sind und Meinungen, die aufgrund einer Dynamik entstehen. Interaktionen zwischen einer solchen Dynamik und der Verstandesleistung tendieren entweder mehr zum Verstand oder mehr zur Dynamik. Gleichzeitig vermuten wir, dass eine Verstandesleistung ein bewusster Vorgang ist, während Stimmungen mit einer unbewussten Dynamik verbunden werden.

Objektive Tatsachen und subjektive Affekte

Atmosphären sind an konkrete Objekte gebunden. Plätze, Landschaften, Menschen, Kunstobjekte, Musik sind real vorhandene Urheber einer Stimmung. Wie genau solche Atmosphären entstehen, lässt sich mit naturwissenschaftlichen Methoden nicht erfassen. Psychologen können Effekte von Farben beschreiben, Raumwirkungen lassen sich analysieren. Bei Tönen ist es schon schwieriger, die Wirkungen differenziert zu benennen. Gewöhnlich nehmen wir an, dass ein Subjekt in seiner Innenwelt einen Resonanzkörper bildet und damit Stimmungen wahrnimmt. Die affektive Betroffenheit wird dann mit den Inhalten gleichgesetzt. Es muss jedoch anders gedacht werden, wenn man die subjektiven Tatsachen des affektiven Betroffenseins in ihre Inhalte und die objektiven Tatsachen, die ausgesagt werden können, wenn man genug Wissen und die Begrifflichkeiten hat, differenziert, wie es nach Hermann Schmitz folgerichtig ist. Die Subjektivität wird verfehlt, wie Hermann Schmitz meint, wenn allein die objektiven Tatsachen untersucht werden. Stimmungen oder Atmosphären lassen sich auf diese Weise nicht erfassen, lediglich Effekte können bestimmt werden. Effekte beschreiben jedoch nicht, was eine Stimmung ausmacht. Ein grundlegender Aspekt von Stimmungen ist, dass sie das Subjekt ergreifen. Es reicht somit nicht aus, das zu beschreiben, was im einzelnen Subjekt vonstattengeht. Stimmungen können als Räume gedacht werden, in denen die einzelnen Räume der Subjekte ineinandergehen. Eine Fokussierung auf einzelne Elemente wird unmöglich. Die Verschmelzung der Räume schafft neue Räume, die eine eigene Dynamik besitzen. Dies lässt sich nicht quantifizieren oder als reale, durch sichtbare Grenzen zu definierende Flächen beschreiben. Es entstehen spürbare Räume, die das Subjekt leiblich wahrnehmen kann. Sobald jedoch dieses Spüren in Zahlen gebracht würde, wäre es nur noch eine Reduktion auf äußere Effekte.

Das Sprechen über Atmosphären

Es lässt sich über Atmosphären nicht wirklich sprechen, darüber kann nur geschwiegen werden. Allerdings kann exemplarisch eine Verdichtung vorgenommen werden, die wie ein Plakat für das steht, was nicht ausgesagt werden kann. Der Kniefall von Willy Brandt in Warschau ist hierfür ein bekanntes Beispiel. Die damalige Atmosphäre ist mit dieser Geste in keiner Weise analysiert oder beschrieben. Der Kniefall ist quasi die Bewegung, die den neu entstandenen Räumen entspricht. Weil die Menschen Teil dieser Räume sind, spüren sie diese passende Bewegung wie einen eigenen körperlichen Vorgang und fühlen sich bestätigt. Das scheint das Faszinosum von Stimmungen und Atmosphären zu sein, dass nämlich das Äußere auf das Innere wirkt und gleichzeitig Inneres und Äußeres dieselbe Bewegung zu vollziehen scheinen. Wer zum Beispiel im Bahnhof in einem Zug sitzt, auf den Zug im Nebengleis schaut, der anfährt, kann nicht entscheiden, ob der eigene oder der andere Zug sich in Bewegung gesetzt hat. Dieser Zustand kann in herkömmlicher Weise nicht beschrieben werden. Der Effekt kann erklärt werden, doch das Erleben changiert ständig. Im Augenblick dieses Erlebens gibt es keine andere Erfahrung.

Stimmung verführt

Wird eine Stimmung sehr stark erlebt und jemand findet eine gute Plakatierung hierfür, kann dies als eine starke Meinung verstanden werden, weil sie sich stimmig anfühlt. Es handelt sich jedoch gar nicht um eine Meinung, sondern um eine Verdichtung, die nur zu dieser Stimmung passt. Kleine Veränderungen können ein solches Gefüge vollkommen verändern. Musik hört sich zum Beispiel anders an, wenn die Wände rot statt braun gestrichen wären. Ein Wein schmeckt in einem schwarz gefärbten anders als in einem durchsichtigen Glas. Die Verführer sind daher nicht diejenigen, die Atmosphären schaffen und Gefühle evozieren. Kritisch betrachtet werden müssen die, die für eine Stimmung plakative Begriffe massiv hervorbringen. In Diskussionen, die nicht wirklich ein Austausch sind, findet man daher oft das Phänomen, dass bestimmte Begriffe immer wieder genannt werden, die wie eine Meinung gehandelt werden. Durch eine ständige Wiederholung wird die bestehende Atmosphäre festgelegt. Es ist nicht mehr die exemplarisch plakative Geste, sondern die Umkehrung einer Stimmung in eine Meinung. Die Stimmung wird missbraucht, die Gefühle aufgeladen und die Einengung auf einen Begriff in einen Widerstand verwandelt. Weil die „falsche“ Plakatierung die Stimmung erstickt, wird umso mehr das angestrebt, was als überzeugende Meinung gilt, da das heftige Kämpfen für diese Meinung mit der Stimmung verwechselt wird oder der Glaube besteht, dass durch ein hartnäckigeres Insistieren die ursprüngliche Stimmung verstärkt werden könnte.

 

Heinz Bude, 2016. Das Gefühl der Welt. Über die Macht der Stimmungen. München: Carl Hanser.

Hermann Schmitz, 2016. Atmosphären. Freiburg / München: Karl Alber.

 



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