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Mein Ich hat ein Selbst

In meinen letzten Beiträgen habe ich mich damit beschäftigt, wie ich Gottes Wirken in der Welt verstehen kann. Das führt zu der Frage: Was sind die Voraussetzungen in mir, dass ich über mein Ich und mein unmittelbares Lebensumfeld hinausdenken kann? Dazu habe ich bei David Steindl- Rast, einem Benediktiner Mönch, einen Zugang gefunden. Er unterscheidet das Ich und das Selbst, um so den inneren Kern zu erreichen.

Mein Ich

Mein Ich zeigt sich in meinem Namen, im äußeren Erscheinungsbild, in der Größe und Hautfarbe, in all dem, was andere an mir wahrnehmen können. Mit meinem Ich stehe ich in der Welt. Es gibt mich tatsächlich. Ich existiere ganz konkret. Wenn ich in einen Buchladen gehe, um ein Buch zu kaufen, können mich andere Menschen sehen, sie können mich an meiner Statur, meinem Äußeren, erkennen, vielleicht auch an der Stimme, meinem Augenaufschlag oder meiner Mimik. Sie sehen mein Ich. Mein Ich ist das, was andere von mir erkennen. Mein Ich lebt nicht allein, sondern im Verbund mit anderen Ich’s, in meinem Umfeld, in der Familie, im Freundeskreis auf der Arbeit. Mein Ich steht in vielen Beziehungen. In diesen Beziehungsgefügen gibt es sehr verschiedene Ansichten, Lebensvorstellungen, Lebenskonzepte, die mein Ich auch immer wieder provozieren, herausfordern den Blickwinkel anderer ernst zu nehmen, mich in ihn hinein zu versetzen, um mein Ich, meine Meinung nicht als die einzig gültige Sichtweise zu verstehen. Die Welt ist vielfältiger als das was mein Ich sich ausdenken kann. Damit Beziehungen mit anderen, wie die Kommunikation und Interaktion untereinander funktionieren und nicht im oberflächlichen Geplänkel hängen bleiben, braucht mein Ich und das der anderen noch eine weitere Seite in der Person. Es ist das Selbst, das in meinem Innern heranwächst.

Mein Selbst

Mein Ich, das andere sehen können, ist nur die halbe Wahrheit meiner Person, denn es gibt noch das Selbst in mir, in meiner Seele, das von außen weder einsehbar noch ablesbar ist. Andere können von meinem Selbst nur das erfahren, was ich durch meine Art wie ich lebe, liebe, was ich mit-teile, wie ich mit Situationen umgehe, weitergebe.
Mein Selbst ist das in meiner Person, zu dem nur ich einen Zugang habe. Es ist nicht von außen erkennbar wer ich wirklich bin. Erst wenn ich anderen einen Zugang zu meinem Selbst eröffne zu meiner Art wie ich lebe, wie ich die Welt verstehe, wie ich  mit meinen Ängsten umgehe, mit der Freude, der Liebe, wie ich mir den Sinn im Leben erkläre, wie ich schwierige Situationen bewältige, wie ich auf Glück reagiere etc… kann ich in meiner ganzen Person wahrgenommen werden. Das „Wie“ bildet mein Selbst, meinen Charakter, mein Wesen, meine Ausstrahlung. Wenn ich mich vor anderen abschließe, sie nicht an meinen inneren Bewegungen teilhaben lasse oder auch bei anderen nicht teilhaben darf, scheint davon nicht viel nach außen durch. Ich bleibe für sie ein großes Fragezeichen, eine Unbekannte, wie auch andere für mich im Dunkeln bleiben. Beziehungen bleiben dabei eher kühl und distanziert, es fehlt das Selbst. Wir können das überprüfen, wenn wir die Gespräche mit Freunden, Nachbarn oder eigenen Kindern reflektieren. Ich spüre den Geist, der sich zeigt, wenn sich das Selbst artikulieren kann. Bleiben die Gespräche in meinem Ich stecken ist das für meine Beziehungen eher kontraproduktiv, denn gelingende Beziehungen brauchen das Selbst, das bereit ist sich dem anderen auszusetzen. Bleibe ich im Ich stecken, ist die Gefahr groß mein Ego in der Nabelschau zu kultivieren. Erst die Symbiose von meinem Äußeren mit meinem Inneren macht mich zu einem „Ganzen“. Heißt das für mich, mit meinem Ich immer mehr Ich-Selbst zu werden? Meine Talente auszubauen, meine Lebensaufgabe zu erfüllen in meinem Wesen noch mehr Liebe und Vertrauen zu integrieren, um diesen Vertrauensraum des Selbst zu nähren? In den nahen Beziehungen zu anderen kann ich erleben, wie Menschen ihr Leben gestalten, wie vielfältig, bunt sie denken, agieren. Ich treffe mit meinem Selbst auf das andere Selbst, das mir dadurch nahe wird. Ich kann spüren, dass andere gleiche oder ähnliche Fragen ans Leben, an den Sinn des Daseins, an die Existenz Gottes, an den Umgang mit Vertrauen, der Liebe, der Wut und der Angst stellen. Ich finde etwas vor, was die anderen auch haben, spüre Verbundenheit und einen größeren Raum der Wahrheit und Liebe.

Mit meinem Selbst betrete ich einen neuen Raum

In diesem Raum, der von Wahrheit und Liebe erfüllt ist, kann ich mich angstfrei aufhalten, denn wenn sich mein Selbst mit dem Selbst der anderen teilt, ist Achtung und Zuwendung, ich kann auch sagen, Liebe im Spiel. In solchen Momenten spüre ich den Geist, den göttlichen Funken, denn nur, wenn ein „guter Geist“ unter uns ist, traut sich das Selbst, sich zu zeigen. Es scheint so, als gäbe es ein einziges großes Selbst, in dem die vielen Selbst‘ zusammenkommen können. Dort kann ich mich mit allem verbunden fühlen, Lebensrecht spüren, bekomme Zugang zur Wirklichkeit von etwas Größerem und Anteil am ganzen Kosmos.

Das umgreifende Selbst

Der Benediktinermönch David Steindl–Rast spricht davon, dass mein Selbst nur ein Ausdruck des einen einzigen großen Selbst ist. Andere nennen dieses „Große“ den Raum der Sprache, des Lichtes, der Wahrheit oder der Vernunft. Denn wenn wir in Kommunikation kommen, betreten wir mit unserem Selbst einen neuen Raum. Wie kann ich das große Selbst verstehen und kann ich es mit meiner Vorstellung von Gott in Verbindung bringen? Dieser Frage gehe ich in meinem nächsten Betrag nach.

Link: Das Größere über mir garantiert mich

Sie wollen Steindl-Rast im Original lesen. Hier der Titel:
David Steindl-Rast, Orientierung finden, Schlüsselworte für einerfülltes Leben, Tyrolia-Verlag, 168 S., € 19,95

 

 



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