Das Buch ist keine Fortsetzung von Natascha Wodins systematischer Familien-Biographie „Sie kam aus Mariupol“, eher eine Ergänzung. Sie schildert ihre beständige Suche nach ihren väterlichen Wurzeln. Das hat mich sehr berührt, auch weil die Lektüre bei mir selbst viele Erinnerungen wachrief.
Der Titel bezieht sich auf Wodins zeitweiligen Seelenzustand, ist aber auch ein Hinweis auf die unergründliche Geschichte ihres Vaters, die bis zu seinem Tod im Dunkeln bleiben muss. Weder ist er bereit, darüber zu sprechen noch kann Wodin, wie noch im ersten Buch, auf Informanten oder Quellen zurückgreifen. Nur wenige Umstände der russischen Herkunft des Vaters Umstände sind bekannt. Wenig erfährt der Leser auch über Natascha Wodins Schwester. Warum, bleibt ebenfalls im „Dunkeln“.
„Displaced person“ - ein wenig beleuchtetes Kapitel deutscher Nachkriegsgeschichte
Dafür erfährt man viel Bedrückendes über den Mikrokosmos der so genannten „Displaced Persons“ (DP). So wurden Zwangsarbeiter*innen genannt, die nach dem Krieg entweder nicht in ihre Heimatländer zurückkehren konnten oder wollten. Zu welcher DP-Gruppe ihr Vater sich rechnet, wird die Autorin selbst nie erfahren. Nachdem sich ihre Mutter das Leben genommen hat, ist das junge Mädchen, die heranwachsende Natascha der Willkür des Familienoberhauptes ausgeliefert. Ihr Vater hat nie einen Versuch unternommen, die deutsche Sprache zu lernen. Doch mit einer Rolle als Putzfrau und Übersetzerin für ihn will sie sich nicht abfinden.
Natascha Wodin beschreibt nachfühlbar beklemmend, wie viel Energie sie verwendet, das Wesen des Vaters zu ergründen, der sich so unväterlich verhält. Sie kämpft darum, ihre eigene Identität zu finden und sich in die deutsche Gesellschaft zu integrieren – Themen, die heute wieder sehr aktuell sind. Ohne den Konflikt mit ihrem Vater lösen zu können, der für sie vor allem ein Peiniger war, begleitet sie ihn schließlich bis zu seinem bitteren Ende.
Das Thema der „Displaced Persons“ ist für mich besonders aktuell. Auch heute gibt es noch Menschen, die unerwünscht sind. Ich kann mich erinnern, dass sich in meiner Kindheit am Rand unserer Stadt früher oft Sinti und Roma aufgehalten haben. Damals nannte man sie ohne jede Scham „Z*******“, ein damals gängiges Schimpfwort, das selbst Leute benutzten, denen ich bewussten Rassismus nicht unterstellt hätte. Natürlich war es uns Kindern verboten, uns in die Nähe dieser Leute zu begeben. Das Verbot wurde untermalt mit allerlei Schauermärchen über das so genannte fahrende Volk.
Unerschütterlicher Wille, den eigenen Weg zu gehen
Neben der körperlichen und psychischen Gewalt ihres Vaters sieht sich Wodin in der wichtigen Phase des Heranwachsens auch kollektiver Verachtung ausgesetzt. Als „Russenlusch“ erfährt sie mit ihrem Verlangen nach Zuneigung und Zugehörigkeit in der Schule und im privaten Umfeld stets Enttäuschung.
Sehr gelungen und für mich gut nachvollziehbar ist die Schilderung ihrer Erfahrungen mit der Kirche, die man als gelebte Doppelmoral bezeichnen muss. Während ihres erzwungenen Aufenthaltes in einem katholischen Mädchenheim findet sie nicht den erhofften Trost, sondern erlebt den Widerspruch zwischen Lehre und Realität, die sich in Strafe und Verachtung ausdrückt.
Erste Zeichen, das erwachende Verlangen zärtlicher Gefühle für das andere Geschlecht zuzulassen, werden bitter enttäuscht und bleiben schließlich Träumereien. Eine Darstellung, die sicher viele Leser*innen ähnlich empfunden haben und wohl auch heute noch empfinden.
Lichtblick mitten im Dunkeln
Natascha flieht schließlich vor ihrem unnachgiebigen und verschlossenen Vater, wird eingesperrt, flieht erneut, überlebt auf kaum vorstellbare Weise unter widrigsten Umständen, bis ihr eines Tages das Schicksal anscheinend wohl gesonnen ist. Spätestens jetzt weckt hat sie nicht nur das Verständnis des Lesers, sondern auch Sympathien für ihr Handeln.
Natascha Wodins Buch ist erschütternd, schnörkellos und nacherlebbar. Diese Qualitäten zeichnen es aus und machen es unbedingt empfehlenswert. Es hat bei mir Emotionen geweckt und Erinnerungen wachgerufen. Jedes Wort klingt authentisch und erlaubt mir, mich in die Autorin hineinzuversetzen.
Für mich ist es kein Buch für eine unbeschwerte Urlaubsreise oder ein Wellness-Wochenende. Dieses Buch liest man am besten allein, mit Muße und Zeit, damit jeder Satz nachhallen kann. Mein Lichtblick, der durch die Dunkelheit des ganzen Werks hindurchwirkt: Natascha Wodin hat ihr schweres Schicksal glücklicherweise überlebt, mit ihren Büchern rüttelt sie die Nachwelt auf und macht nachdenklich.
Natascha Wodin: Irgendwo In Diesem Dunkel, Rowohlt 2018, 240 Seiten, ca. 20,- €
(Amazon nutzt Cookies und zahlt hinsehen.net beim Kauf eine kleine Provision. Damit decken wir einen ganz kleinen Teil der Kosten für unser Portal. Ihnen entstehen keine Mehrkosten.)
Kommentare (0)
Keine Kommentare gefunden!