Durch Corona bedingt haben wir ein für die Osterwoche geplantes Treffen ins Internet verlegt und uns neunmal für jeweils 75 Minuten zweimal täglich über Video zusammengeschaltet. Jeder hat erzählt, wie er, wie sie Gott sieht, erfahren hat. Ausgangspunkt war die Beobachtung, dass zu jedem Beten eine Vorstellung von Gott gehört. Ich bete so, wie ich mir ein Bild von Gott gemacht habe. Nachdem jeder angehört worden war, stellten wir in einer Auswertungsrunden fest:
- Jeder hat einen eigenen Weg, warum er, warum sie sich an Gott wendet, was das Gebet trägt, was jeder von Gott erwartet und wie jeder sich von Gott getragen fühlt.
- Die jeweilige Sicht der einzelnen ergänzt sich. Ich kann jedem zuhören, ohne in eine Spannung zu geraten.
Es gibt etwas Gemeinsames
Gott wirkt in jedem. Es bereichert mich, wie der andere Gott sieht. Ich bleibe aber bei meinem Weg und weiß jetzt, dass die anderen ihren Weg gehen.
Wir haben auch festgestellt, dass wir noch gemeinsam und zugleich jeder für sich weiter gehen können, indem wir uns nicht nur über unsere Vorstellungen von Gott austauschen, sondern erzählen, wie Beten konkret in unserem Alltag seinen Platz findet und wie es sich geformt hat. Die ersten Beiträge sind online.
Verschiedenheit, die sich ergänzt
Es ist uns leichtgefallen, die Erfahrung der Verschiedenheit einzuordnen. Gott ist so groß und übersteigt die Fassungskraft auch noch viel größerer Gruppen. Wahrscheinlich ist es so wie mit dem Fingerabdruck. Jeder hat einen anderen. So können wir wahrscheinlich allen Menschen zuhören, wie sie Gott erfahren, welche Vorstellung von Gott in ihnen gewachsen sind und immer wieder Neues erfahren. Wir werden bei Vielen überrascht sein, wie sie Gott sehen. Denn jeder entdeckt erst im Zuhören und im Von-Sich-Erzählen seinen persönlichen Zugang und wie er seine Beziehung zu Gott sieht. Der jeweils eigene Fingerabdruck gilt ja nicht nur für die Form des Betens, sondern wie ich mich anderen Menschen zeige, wie ich bereits als Kleinkind auf die Welt zugegangen, wie ich mit Herausforderungen umgegangen bin. Das heißt dann, dass ich Gott als der Mensch erfahre, der ich geworden bin. Es gibt so viel Erzählstoff, wie es Menschen gibt, es gibt so viele verschiedene Zugänge zu Gott, wie Beter sich auf den Weg zu Gott machen. Auch diejenigen, die noch mit dem Aufbruch zögern, haben ja bereits eine Ahnung, auf wen sie zugehen.
Beten ist nicht uniform
Von außen wirken Beter wie für eine innere Bewegung trainierte. Es sind für jede Religion auch einige feststehende Gebetstexte, die zu Formeln geworden sind. Im Islam das Allahu akbar, im Christentum das Vaterunser und für die Katholiken das „Gegrüßet seist du Maria“. Ist nicht der Ritus bis ins Einzelne festgelegt und müssen die Gesten nicht immer in der gleichen Weise ausgeführt werden? Das trifft zu, jedoch ermöglichen auch die immer gleichen Riten jedem einen individuellen Zugang und Vollzug. Würde man die Teilnehmer eines Gottesdienstes fragen, wie sie sich an der Feier beteiligt haben, wäre auch hier jeder vom anderen verschieden. Der Eindruck, dass ich durch die Festlegungen des Ritus und die immer gleichlautenden Gebete "in der Masse untergehe", wird vielleicht auch durch die psychologischen und soziologischen Erhebungen verstärkt. Fragebögen zielen darauf ab, allgemeine Trends, Einstellungen, vielleicht sogar Persönlichkeitsmerkmale herauszufinden. Wie bei jeder Wissenschaft zielen auch die anderen Instrumente der Sozialwissenschaften auf das, was als Gesetzmäßigkeit festgestellt haben und auf das man bauen kann, wenn man Projekte und Maßnahmen plant. Gerade in der Religion ist aber die Verschiedenheit Das, was allgemein gilt.
Die Einzigkeit der Person ist Gesetz
Wenn alle das gleiche Lied singen und den gleichen Gebetstext sprechen, wird Religion zum gesellschaftlichen Phänomen und kann von der Soziologie erfasst werden. Deshalb gilt für die Kirchensoziologie die Teilnahme am Gottesdienst als Indikator für Religiosität. Da sich die Kirchenleute von McKinsey u.a. die Rezepte geben lassen, wie Religion sich organisieren lässt, bracht es keine Anordnungen „von oben“, damit die Kirche immer uniformer wird. Die Entscheidungsträger müssen nicht mehr die Gläubigen fragen, sondern bekommen von Beratern das Herrschaftswissen. Das braucht eine Institution auch, weil sie mit dem arbeiten muss, was möglichst Viele gemeinsam haben. Jedoch liegt das Religiöse im Einzelnen und braucht die Kirche für den Umgang mit den Erfahrungen, die ganz persönlich sind. Wenn das Verhältnis von Institution und Individuum wieder im Gleichgewicht ist, kann sich Religiosität entfalten. Das zeigt sich an folgenden Beobachtungen:
Religiosität braucht verfasste Religion
Warum braucht aber Religion die äußere Struktur, die gottesdienstliche Versammlung, die Wallfahrt, die Prozession, das gemeinsame Singen. Es ist der menschliche Geist, der den anderen Geist braucht, um sich als Geist zu erfahren. Wir finden ohne das Du nicht unser Ich und können nicht ohne Worte, die allen gemeinsam sind, denken. Erst wenn wir es in Worten sagen können, werden Eindrücke zu Erfahrungen, Ahnungen zu Gedanken, Überlegungen zu Einsichten. Die Worte dafür bilden sich nicht in mir neu, sondern ich greife auf die Wortbedeutungen zurück, die im Duden zusammengestellt sind. Wittgenstein hat die Beobachtung herausgestellt, dass es keine Privatsprache gibt, also ein Wörterbuch, das nur ich allein kenne. Wir brauchen die im Duden zusammengestellten Wortbedeutungen, um "einen Gedanken zu fassen". Wie Wissenschaft erst im sprachlichen Austausch der Forscher sich zur Formulierung von Naturgesetzen ausformt, so braucht die religiöse Ahnung, das Erfassen des Umgreifenden den Austausch mit anderen, um die eigene Religiosität auszuformen. Religiosität als ganz persönliche Beziehung zum Umgreifenden braucht das Allgemeine der Religion. Das kann jeder erfahren. Für die Gruppe, deren Erfahrungen hier reflektiert werden, genügten 9 Stunden, um sich über das eigene Beten klarer zu werden und seine Vorstellung von Gott bewusster zu erkennen. Das erforderte aber das Zuhören. Wenn ich von anderen erfahren habe, welchen Zugang sie zu Gott gefunden haben und wie sie konkret beten, wird mir selbst deutlich, dass mein Beten sehr viel breiter angelegt ist, dass ich den Gottesdienst in dieser, meiner persönlichen Weise feiere und wie die Vorstellung, die ich mir von Gott mache, eigentlich aussieht. Erst wenn ich anderen zugehört habe, erkenne ich auch, wie begrenzt meine Vorstellung von Gott ist. Gerade für mich als Priester heilt mich ein solcher Austausch von der Annahme, ich könne Menschen zu Gott führen. Sie kommen über ihre eigenen Erfahrungen zu Gott. Ich kann nur dafür sorgen, dass sie sich mit dieser Erfahrung nicht alleine fühlen.
Kirche entsteht durch Zuhören
Das ganz Persönliche, das in solchen Gesprächen hervorkommt, lässt Gemeinschaft entstehen. Gemeinschaft, also Kirche entsteht nicht, indem alle das Vaterunser sprechen und dann zu Ihrer persönlichen Bitte kommen, sondern jede Versammlung beginnt beim einzelnen: Ich wende mich dem Gott zu, der meine Existenz will und mich im Leben hält, der letztlich die Last der Schuld von mir nehmen, der die verworrene Geschichte meines Lebens und die der gesamten Menschheit entwirren, klären, zu einem guten Ende führen kann.
Religiöse Bekehrungen brauchen Kirche
Die Unentbehrlichkeit der anderen wird gerade an denen deutlich, die eine ganz persönliche religiöse Erfahrung gemacht haben. Die Erfahrung ist immer eine, die mich persönlich ergreift. Ich soll nicht ein für alle gültige Erkenntnis gewinnen und eine für alle gültige Lebenssicht übernehmen, sondern erfahre mich als einmalige Person. Ich bin erst einmal alleine für mich gemeint. In der religiösen Erfahrung kommt der einzelne zu sich selbst und berührt den Lebensnerv seiner Freiheit. Die Person ist da noch nicht beim Vaterunser, sondern beim Ich-alleine. Um sich zu vergewissern, was ich erlebt habe, um die Bedeutung zu erfassen, drängt diese erfahrene Einmaligkeit in den Austausch. Ich muss das, was mir widerfahren ist, was mir einen größeren Horizont öffnet, einordnen, für mich fruchtbar machen, es durch einen Haltepunkt jeden Tag in mein Leben einfließen lassen. Ich baue sozusagen eine schiene zu Gott, so dass ich ohne großes überlegen täglich in den Zug einstiegen kann.
Religiosität ist menschlicher Macht entzogen
Wenn die katholische Kirche neue Lebendigkeit sucht, dann gibt es keine Machtfrage. Da muss die Kirche neu auf Luther hören, der uns leider in seiner Religiosität 2017 von den evangelischen Mitchristen nicht zugänglich gemacht wurde. Religiosität, als Beziehung zu Gott verstanden, nimmt allen irdischen Autoritäten die Macht über das Eigentliche. Wer von Gott gerufen ist, ist wirklich frei, nicht nur von Schuld, sondern von allem Anspruch, den Menschen mir gegenüber erheben können. Jede menschliche Macht endet an der Religiosität und dem Gewissen des Einzelnen. Das Gemeinsame braucht eine Ordnung und Leitungsämter, die die Ordnung aufrechterhalten. Das Eigentliche ist aber damit nicht erfasst, nämlich, dass die Kirche der Raum ist, in dem jeder seine religiösen Erfahrungen klären kann, um sie in seine Entscheidungen wie in die konkrete Gestaltung seines Alltags einfließen zu lassen.
Eine Reflexion auf Jesus muss noch folgen. Wie bedeutsam ist seine Beziehung zu Gott für den einzelnen Christen? Diese wird am Herz Jesu Freitag online gestellt: Auch er hat gebetet und damit eine Vorstellung von Gott in sich getragen.
Links
Die Berichte über das persönliche Beten finden sich auf hinsehen.net, zusammengestellt im Modul Neu Betenhttps://hinsehen.net/artikel/neu-beten/
Ein erster Bericht zu den Gesprächen über das Beten, der mehr die Teilnahme am Gottesdienst fokussiert: Beten - im Kontext mit anderen
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