Der verschollene Gott
Habe ich Gott erst einmal den Zutritt zu meinem Leben verwehrt, weil ich es selbst bestimmen will, kann die Auseinandersetzung mit ihm lange Zeit tief in mir verborgen bleiben, bevor ich sie wieder zulassen kann und will. Wir beobachten ja gerade, dass viele Menschen Gott für sich abgeschafft haben. Was passiert in der Zeit, in der Gott abwesend ist? Eigentlich fehlt da gar nicht so viel, denn wir haben ja alle Hände voll zu tun um mit den Anforderungen, die das Leben an uns stellt, fertig zu werden. Da bleibt oft nicht die Zeit oder die Muse, sich auch noch mit etwas zu beschäftigen, was augenblicklich als nicht dringend erlebt wird. Die Auseinandersetzung mit den tieferen Dimensionen im Leben ist auch meist zusätzlich zu dem was die Tage von uns abverlangen zu aufwändig. Wenn dann Zeit bleibt oder Ruhe einkehrt, gibt es viele schöne Abwechslungen, Anregungen außerhalb, mit denen ich mich zerstreuen kann. Es gibt genug zu tun, so dass ich nicht gezwungen bin, mich mit den Fragen nach Gottes Wirken, meiner Einzigartigkeit, meiner Berufung oder der Frage, was der Sinn meines Lebens ausmacht, zu beschäftigen. Solange ich mich nicht groß eingeschränkt fühle, geht das Leben, auch oft unbekümmert, weiter.
Es treten andere „Mächte“ in mein Leben
Allerdings verläuft mein Leben nicht einfach so weiter. Ich stoße mit meinen Vorhaben, meinen Ideen auf die Machtinteressen anderer. Waren es in der Jugend die Eltern und andere Autoritätspersonen, die mich eingeschränkt haben, sind es jetzt die Ansprüche der Vorgesetzten, des Verdienen-Müssens, auch des Bekannten- und Kollegenkreises, in der Familie, die auf mich zukommen. Jetzt wird meine Freiheit erst richtig Thema, denn sie steht nun ernsthaft zur Disposition, vor allem wenn ich von einem autoritären Regime, wie die Menschen in Belarus, regiert werde. Auch wenn ich in einem demokratischen Staat lebe, spüre ich, dass ich nicht so frei bin, wie ich es gerne hätte. Da gibt es so manche Zwänge, an denen ich auch nicht vorbeikomme, die ich akzeptieren muss. Aber die willkürliche Macht, die in Belarus ausgeübt wird unterdrückt die Menschen, setzt aber gleichzeitig Kräfte frei, jeden Tag auf die Straße zu gehen und zu demonstrieren. Woher kommt die Kraft, gegen ein System vorzugehen, bei dem ich weiß, dass ich mein Leben aufs Spiel setze? Aber auch im normalen Alltag, woher nehme ich den Mut, mich gegen etwas zu stellen, was mir oder anderen den Atem nimmt? Wenn wir uns gegen etwas wehren, kämpfen wir meist für Wahrheit und Gerechtigkeit. Sie aber kommen nicht aus der Natur. Sie müssen einen anderen Ursprung haben. Damit stoße ich auf die Frage: Wer garantiert mir, dass es sich lohnt für Wahrheit und Gerechtigkeit zu kämpfen? Es ist doch eigentlich sinnlos. Wenn wir in die Geschichte schauen, läuft das Leben fast immer auf Gewalt und Vernichtung durch die Stärkeren zu. Es muss eine größere, objektive Instanz geben, die dafür steht, dass wir die Hoffnung auf Gerechtigkeit, Freiheit und Würde des Einzelnen nicht einfach aufgeben. Und die in uns Kräfte weckt, aus der Position des Schwächeren für Transparenz und Gerechtigkeit zu kämpfen. Vielleicht bringen mich diese Gedanken wieder dazu, mich mit der Frage nach dieser größeren Instanz auseinanderzusetzen, die die Werte garantiert. Auch wenn ich mich in einem Atheismus eingerichtet habe, in dem ich der Wissenschaft die Beantwortung aller Fragen zutraue und die Frage nach Gott gar nicht mehr zugelassen habe, möglicherweise auch Enttäuschungen meinen Glauben an etwas Größeres mich so beeinträchtigt haben, dass ich nur noch auf Brachland schaue, oder mein Gottesbild aus Kindertagen einfach nicht mehr trägt, sind diese Fragen eine Herausforderung an meine Lebenssicht.
Wie komme ich zu einem neuen Gottesbild?
Manchmal ist es die Neugierde oder auch die Not, die mich dazu bringen mich mit den tieferen Dimensionen im Leben zu beschäftigen. Vielleicht suche ich nach einem tieferen Sinn für mein Leben, wenn ich gerade von einem schweren Schicksalsschlag getroffen bin. Möglicherweise frage ich mich auch, weshalb gerade ich in dieser Welt, in dieser Zeit leben darf oder soll, oder wie es zu bestimmten Wertvorstellungen und Lebenseinstellungen in mir kommt, oder wie Dinge passieren können, die ich real erlebe, aber die nicht erklärbar sind, dann brauche ich das richtige Futter, damit ich meinen Wissensdrang stillen kann.
Neue Erfahrungen
Oft sind es Begegnungen mit Menschen, die in uns etwas Neues anklingen lassen, die dieses Ödland, in dem Gott zwar nicht vermisst wurde aber dennoch fehlte, bereits hinter sich haben und neue Dimensionen in ihrem Leben mit ihm entdecken konnten. Es gibt theologische wie philosophische Bücher, die mir einen neuen Blick eröffnen, die meine Wahrnehmung möglicherweise sogar erklären oder meine Vorstellungen verändern können. Manchmal braucht es neue Erfahrungen, mit denen ich andere Erkenntnisse über Gott gewinne, als die, die sich in mir festgesetzt haben. Oft gibt es auch Anlässe, wie Hochzeiten, Geburten, Taufen oder Beerdigungen, die mir wieder oder vielleicht auch zum ersten Mal einen Zugang zu dem transzendenten Größeren ermöglichen. Auch Menschen, die Nahtoderfahrungen gemacht haben, können erzählen, was uns erwartet, wenn unser Leben zu Ende geht. Vielleicht kennen wir auch Ereignisse im Leben die so überwältigend sind, dass wir aufgerüttelt werden, weil wir uns fragen, wieso gerade ich oder so? Besonders manche wissenschaftlich unerklärbaren Phänomene, können mich daran erinnern, dass der Machbarkeitswahn uns auch gefährdet, wir die Hybris überwinden müssen. Auch spüren wir irgendwann, dass noch mehr Konsum uns nicht die Zufriedenheit im Leben einspielt, die uns wirklich „glücklich“ sein lässt. Wenn wir nämlich genau hinschauen, den Dingen, die wir wahrnehmen immer mehr auf den Grund gehen, entdecken wir vielleicht auch, dass es etwas Erhabeneres geben muss, das unter oder hinter allem in dieser Welt verborgen zu sein scheint. Dieses Erhabene ist es, das mir meine Energie, meine Kraft, meinen Mut und meine Einzigartigkeit sichert, denn wo soll sie sonst herkommen? In dieser Einzigartigkeit soll und kann ich mich mit meinen Begabungen und Talenten entwickeln. Wer, wenn nicht dieses Größere könnte denn unsere Selbstverwirklichung wollen, unseren Drang zur Gerechtigkeit und Freiheit, die ja bei anderen auf Ablehnung stoßen kann.
Damit ich einen neuen Zugang zu dem Transzendenten in mir entwickeln kann, braucht es die Auseinandersetzung mit einem Größeren, der nicht als richtende Instanz oder Freiheitsbeschränker in der Welt agiert, sondern, der mit unseren Begabungen und Talenten diese Welt gestalten will. Eine Welt, in der es um Freiheit für die Entwicklung der persönlichen Begabungen und Talente geht, damit sie jedem zur einzigartigen Personwerdung verhelfen, die sie für das Wohl, den Frieden, die Freude und die Liebe in ihrer kleinen wie der großen Welt einsetzen sollen. Freiheit wird damit zu einer Forderung an den Einzelnen zur Personwerdung und Selbstverwirklichung, damit sie in der Entfaltung ihrer Freiheit etwas für die Familie, das berufliche und nachbarschaftliche Umfeld tun können.
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