Die generationenübergreifende Auseinandersetzung mit Menschheitsfragen schlagen sich in den Märchen nieder. So lohnt sich auch heute ein Blick in diejenigen Grimm’schen Märchen, die den Tod thematisieren. Sie können uns einiges über den Umgang mit Sterben und Tod sagen.
Aus der Diskussion um das Wann oder gar Ob des Todes wird eine Diskussion um seine Akzeptanz: Zum Umgang mit der modernen Medizintechnik
Die Märchen lehren die Unausweichlichkeit des Todes, nehmen gleichzeitig aber auch die Angst und stärken das Vertrauen, dass er für das Individuum zu einem guten Zeitpunkt eintreten wird sowie für das zahlenmäßige Gleichgewicht sorgt. Diese Erkenntnis lenkt alles weitere Reden weg von der Frage nach dem Wann oder gar Ob des Todes hin zu dem Umgang mit dem Sterben: Märchen lehren, das Sterben zu akzeptieren. Was kann das für die heute virulente Frage nach dem Sinn der Hochleistungsmedizin bedeuten?
Die Märchen lehnen auf grundsätzlicher Ebene jede lebensverlängernde Maßnahme durch den Menschen ab: Wenn der Mensch Gott zur Zuteilung von mehr Lebenszeit drängt, erhält zwar mehr Lebensjahre. Diese entpuppen sich aber als eine Zeit, in der er „schwachköpfig“ wird. Besser hätte sich der fordernde Mensch mit seinem ursprünglich bemessenen Lebensalter zufriedengegeben. So im Märchen „Lebenszeit“. Diese Ablehnung einer Verlängerung der Lebenszeit durch den Menschen richtet sich jedoch nicht gegen jegliche medizinische Behandlung. Denn ausdrücklich bejaht „Der Gevatter Tod“ eine Heiltätigkeit durch den Menschen, insbesondere durch den Arzt, der Krankheiten behandeln darf und soll – jedoch im Rahmen seiner Machtbefugnisse. Wenn der Tod eintreten will, muss der Arzt von seinem Patienten ablassen. So beinhaltet die ars moriendi, die „Kunst des Sterbens“, dass Arzt wie Patient das Sterben zulassen. Die Kunst besteht darin, im richtigen Moment das Leben loszulassen.
Der Tod ist nicht Feind des Lebens, sondern Freund im Leben
Es geht um die grundsätzliche Akzeptanz des Todes, der das Leben beendet. Diese entsteht erst in der Begegnung mit dem Tod, dann, wenn ein Anderer stirbt oder ich selbst zum Sterben komme. Diese Begegnung führt den Menschen zur eigentlich wichtigen Auseinandersetzung mit dem Tod im Leben, nämlich zu der Frage, wie es möglich ist, dass der, der das Leben beendet, zum Begleiter des Lebenden wird, so dass er für den Lebenden wie zu einem Paten werden kann. So stellt sich unausweichlich die Frage nach der Weise der Wahrnehmung und der Weise des Umgangs mit ihm. Und auch darauf geben die Grimm‘schen Märchen eine Antwort: Indem sie den Tod als Lebensbegleiter charakterisieren, fordern sie implizit dazu auf, ihn positiv als Freund und Mentor an der eigenen Seite zuzulassen. „Denn wer mich zum Freunde hat, dem kann’s nicht fehlen“, verkündet der Tod dem mit Sorgen belasteten Vater im „Gevatter Tod“. Der Tod meint es grundsätzlich gut mit dem Menschen. Seine Patenschaft kann als Lebensbund, als Fürsorge und Auftrag, dem Patenkind ein glückliches und erfülltes Leben zu schenken, verstanden werden.
Die Boten des Todes
Wie jedoch – so erneut die Frage - kann der Mensch zu diesem Verhältnis zum Tod gelangen? Dies zeigt das Märchen „Die Boten des Todes“: Seine Vorboten im Leben zu erkennen, indem sich der Mensch mit Krankheit und Alter auseinanderzusetzt, um sie als Zeichen der eigenen Vergänglichkeit anzunehmen. Der Tod bedroht dann nicht mehr den Menschen, sondern führt ihn zu dem inneren Frieden für das eigene Leben wie für das Sterben. Denn falsch ist auch in diesem Märchen wieder die Ausgrenzung der Endlichkeit, die den Menschen verblendet. Zuletzt wird der Tod kommen, gleich wie der Mensch zu ihm steht, denn der Tod „macht alle gleich“. Doch ist er nicht das Böse. Dieses nimmt im Märchen in der Figur des Teufels eine ganz eigene Rolle ein. Vielmehr ist er der gerechte Lebensbegleiter, „Gevatter Tod“, dessen Aufgabe es ist, das Leben des Menschen im Märchen zur rechten Zeit zu beenden, dem Einzelnen wie der ganzen Gesellschaft nicht das Leben zu nehmen, sondern ihr Leben durch sein Eingreifen erst wirklich menschlich zu machen.
Der Tod als Lebensbegleiter aller Menschen: Zur Palliativmedizin und Hospizkultur
Vor diesem Märchen-Hintergrund lassen sich auch aktuelle Bemühungen der Sterbebegleitung im Sinne der Hospizbewegung und nicht der Sterbehilfe betrachten. Hospize, die schon durch ihre Existenz wie auch durch ihre Pflege den Tod ins Leben holen, ihn zum wirklichen und nicht nur fremd-abstrakten Lebensbegleiter werden lassen. Sie machen Nähe und Unmittelbarkeit der Grenze zwischen Leben und Tod erfahrbar. Sie führen zu einer Auseinandersetzung mit dem Tod. Sie thematisieren das Sterben, ohne Ängste zu schüren und gehen unmittelbar auf den Tod zu, um ihm seine Bedrohlichkeit zu nehmen. Indem der Tod erfahrbar wird, wird er Teil des Lebens. Indem die Menschen sich des Todes bewusst werden, können sie ihre Angst vor ihm ablegen. Das Hospiz ermöglicht Patienten und Angehörigen ein erfüllendes Lebensende, gerade im Angesicht des Todes. Es kann in Hospizen schließlich gelingen, was die Märchen fordern: Der Tod wird Teil des Lebens, er ist kein unnahbarer Fremder, sondern ein naher Begleiter. Die Märchen legen eine längerfristige Sterbebegleitung nahe, statt sich für eine abkürzende Sterbehilfe auszusprechen. Wenn die eigene Sterblichkeit verdrängt und ausgeblendet wird, führt das aus der Sicht der Märchen zu Überheblichkeit, die Autonomie wird als Hybris entlarvt. Mit der Hospizkultur und im Sinne des Märchens beginnt die Ars moriendi schon sechzig Jahre vor dem Sterben, wenn nicht noch früher, indem sie mitten im Leben zu einer echten Auseinandersetzung mit dem Tod führt.
Was Märchen wollen: „Sterben, um zu leben!“
Märchen wollen und können genau dies, auf den Tod vorbereiten. Das Sterben zu einer Kunst zu machen, den so die wörtliche Übersetzung von ars moriendi. Äußerst verblüffend ist die Aktualität, die den Märchen bis heute innewohnt. Sie erweisen sich als zeitlos, legen das frei, was jeden Menschen betrifft und werden so zu hilfreichen Wegweisern in der heutigen Tod-und-Sterben-Debatte. Ihr Grundprinzip lautet: Der Tod ist nicht ein Schatten, der auf unserem Leben ruht, sondern er ist sein Begleiter, der uns erst ermöglicht, unser Leben zu gestalten. Wir werden, im märchenhaften Sinne, nicht geboren, um zu sterben, sondern wir sterben, um zu leben.
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