Burnout; Foto: explizit.net

Gerechtigkeitslücke: Dienstleistungsgesellschaften erzeugen anderen Stress

Ist Geldmangel das Problem oder Stress? Hieße Gerechtigkeit im Sinne von SPD-Schulz nicht Entlastung von Stress? Es ist zu zeigen, dass die Dienstleistungsgesellschaft als spezifische Krankheit Burnout hervorgebracht hat.

Burnout ist die Krankheit, mit der wir auf unsere Arbeitswelt reagieren. Burnout ist kein psychischer Defekt, sondern Folge von Schlafstörungen. Die werden weitgehend durch das Multitasking und den Arbeitsdruck erzeugt. Es ist das Symptom der Dienstleistungsgesellschaft. Die Burnout-Welt ist nicht die biologische, sondern die vom Menschen gemachte Welt, die Zeitdruck und damit Burnout erzeugt. Deshalb die Frage: In welcher Welt wollen wir leben?

Krankheitssymptome als Folge von Zeitdruck

Jeder begegnet ihnen oder ist selbst davon betroffen. Eine Bronchitis oder Erkältung, die nicht weggehen will. Ermattung bis zur völligen Antriebslosigkeit. Uns begleitet Zeitdruck, es ist immer mehr zu tun, als Zeit da ist. Vieles Unerledigte, was einen bis nach Hause begleitet. Da klingt die Aufforderung zum Abschalten wie Hohn. Bei immer mehr Menschen rebelliert der Körper gegen die Umwelt, erst einmal durch Schlafstörungen, dann durch Allergien, eine depressive Grundstimmung. Diese Reaktionen entspringen unserer Biologie, denn die Schlafstörungen bringen den Biorhythmus durcheinander. Ursache ist aber nicht die Biologie, sondern die vom Menschen gemachte Welt. Wenn wir anders, eben im Einklang mit unserem Biorhythmus leben wollen, müssen wir die Bedingungen vor allem der Arbeitswelt ändern. Was müsste aber geändert werden?

Dienstleistungen heißt "nie genug"

Als die Arbeitswelt von der Produktion bestimmt wurde, war irgendwann das Werkstück fertig. Ob eine Schraube, ein Auto, ein Fernsehgerät. Das galt auch für die Zeitung: Sie hatte 32 Seiten, es gab Redaktionsschluss und dann wurde gedruckt. Die  verschiedenen Lokalausgaben, die Sonderseiten und Beilagen kamen noch hinzu. Mit der Homepage ging dann jeden Zeitbegrenzung verloren. Im Internet kann man immer etwas machen und muss etwas machen, denn die Konkurrenz wird weniger durch Qualität als durch Schnelligkeit entschieden. Schnelligkeit gilt auch für die Lieferungen, möglichst am selben Tag soll das im Internet Bestellte an die Haustür gebracht werden, inzwischen auch das Mittagessen.
Die nächste Etappe und damit nochmal eine Drehung an der Stress-Schraube ist die ständige Wartung der Geräte, der Heizung, des Autos. Selbst der Kühlschrank wird entsprechend den verbrauchten Joghurts, Schinkenpackungen, Marmeladen nachgefüllt. Die Konsequenz: Am Ende der digitalen Informationskette müssen einsatzbereite Menschen stehen, die den Wunsch des Kunden erfüllen. Je mehr Dienstleistungen zu einem Produkt, desto konkurrenzfähiger. Je mehr Dienstleistungen rund um die Uhr, desto größer die Marktmacht.

Die Leistungsschraube wird beim Service weiter gedreht

Auch wenn die Dienstleistungen und nicht mehr nur die Produkte selbst den Wert eines Kaufes ausmachen, schlagen sich diese Zusatzleistungen nicht in einem höheren Preis nieder. Deshalb müssen die Serviceabteilungen immer mehr verkraften. Wer in einer solchen Serviceabteilung länger gearbeitet hat, ist mit immer höheren Anforderungen belastet worden. Das lässt sich alles berechnen, nämlich wie viele Anrufe oder Bestellungen anfallen, wie viele Minuten für einen Anrufer zur Verfügung stehen, wie lange die Bearbeitung einer Bestellung braucht. An jedem Vorgang kann man ein oder mehr Minuten einsparen, so dass jeder Mitarbeiter produktiver wird. Man kann das als Konsument nachvollziehen. Im Rückblick nur auf die letzten 5 Jahre wird sich bei den meisten zeigen, dass man mehr online bestellt, Servicetelefone häufiger nutzte und inzwischen mehr fremde Leistungen in Anspruch nimmt. Der Rückblick wird bei den meisten auch zeigen, dass wir anspruchsvoller geworden sind. So sind wir nicht mehr bereit, lange zu warten, bis sich am anderen Ende der Telefonleitung jemand um mein Anliegen kümmert. Wir sind es als Kunden, die in der Summe uns selbst mehr Arbeit machen. Natürlich zahlen wir auch den Preis. Der steht aber nicht auf dem Preisschild. Dafür sorgt das immer noch wachsende Heer von Betriebswirten.

Die Betriebswirtschaft regiert

Mehr Service, möglichst rund um die Uhr, führt zu mehr Kunden. Mehr Kunden rufen häufiger an. Wenn man nicht mehr Personal einstellt, dann ist das ein Sieg der Betriebswirtschaft. Es steigt einfach nur der Gewinn. Wenn es dann sogar gelingt, Personal zu entlassen, dann verbessert sich das Jahresergebnis noch einmal. Wenn dann noch die Betriebswirtschaftslehre das am meisten gewählte Studienfach nicht nur von Männern ist, dann kann man das Ergebnis leicht voraussagen: Mehr Krankheitstage, mehr Burnout, mehr Angst, wieder ins Burnout zu fallen, mehr Arbeitsunfähigkeit. Seit Jahren ist deutlich, dass die Betriebswirtschaft falsch rechnet. Wie bei der Umweltbelastung erscheinen auch die Gesundheitskosten nicht in der betrieblichen Rechnungslegung. Die Gesundheitskosten werden nämlich durch eine allgemeine Umlage getragen. Die Fehltage wegen Krankheit werden durch diese Rechnungslegung nicht erfasst. Die Zufriedenheit mit der Arbeit ist Privatsache. Aber kann das einzelne Unternehmen einen anderen Kurs steuern? Ist es nicht, wie der einzelne Mitarbeiter, die Mitarbeiterin Opfer einer großen Fehleinschätzungen, was Arbeit heißen könnte und wie man sie menschenfreundlich organisiert.

Karl Marx sieht in der Entfremdung das Problem

Man könnte kritisch fragen, was die Linkspartei oder die SPD zu Burnout als ein durch die Arbeitsorganisation verursachtes Phänomen sagen. Die Gerechtigkeitsidee von Martin Schulz müsste auf die heutige Situation angewandt werden. Es ist ja nicht mehr die materielle Ausbeutung, sondern die Ausbeutung auf der Ebene der Zeit. Für Marx lag die Entfremdung darin, dass der Kapitalist in der Gestalt des Fabrikbesitzers dem Arbeiter das Werkstück wegnahm, verkaufte und ihn nicht am Gewinn beteiligte. Mehr Beteiligung am Gewinn durch höhere Löhne ist bis heute die Strategie der Gewerkschaften. Aber wird man damit dem Arbeiter mehr gerecht? Marx hat richtig gesehen, dass das Arbeitsergebnis, wenn es der Hersteller als sein Werk betrachten kann, schon in sich Belohnung ist. Worin besteht aber die Belohnung eines Telefonisten, einer Fahrkartenverkäuferin, für jemanden, der Reklamationen entgegennimmt? Wenn Arbeit dann so organisiert wird, dass man immer mehr in der gleichen Zeit erledigt, ist dann nicht die Erschöpfung zum Werkstück geworden? Das ist genau die psychische Komponente des Burnout, nämlich die Zufriedenheit, die man durch Arbeit gewinnt.

Konsum macht nicht zufrieden

Wir haben unsere Welt so organisiert, dass wir auf der einen Seite in kurzer Zeit viel leisten, um die andere Zeit dann durch anspruchsvollen Konsum zu genießen. Warum dem Konsum das aufbürden, was die Arbeitsorganisation dem einzelnen vorenthält? Und macht Konsum wirklich so zufrieden? Kann Konsum kompensieren, was die Arbeit nicht einspielte? Warum organisieren wir die Arbeit nicht so, dass wir von dort ein höheres Maß an Zufriedenheit mitbringen? Bildung hieße dann sehr viel mehr als "fit für den Arbeitsmarkt", nämlich die Begabungen in jedem einzelnen entwickeln, durch deren Einsatz er und sie dann die Zufriedenheit erreichen können, die eine demokratische Gesellschaft ihren Mitgliedern eigentlich verspricht. Demokratie heißt ja nicht nur, die wählen zu können, von denen man dann regiert wird, sondern als Bürger in Würde zu leben. Das gilt auch für die Arbeitswelt. Wenn aber nach der herrschenden Betriebswirtschaftslehre Mitarbeiter auf der Kostenseite verbucht werden, dann ist die logische Folge, dass man mehr aus ihnen herausholen muss. Es geht auch anders. Benedikt von Nursia hat schon vor 1500 Jahren das Konzept gefunden.

Die Abtei als Wirtschaftsmodell

In einer Abtei war die Arbeit immer schon zeitlich begrenzt, denn der Tag wird nicht durch die Arbeit, sondern die Gebetszeiten strukturiert. Auch spielen die Feste eine große Rolle, während diese in der Arbeitswelt eigentlich abgeschafft gehören. Die Französische Revolution hat sogar die Arbeitswoche auf 9 Tage verlängert, indem nur alle 10 Tage ein freier Tag zugeteilt wurde. Man könnte sarkastisch sagen, dass die Moderne mit ihrer Arbeitszeit Gott überholen will, der nur sechs Tage für sein Schöpfungswerk brauchte. Die Arbeitsorganisation der Abtei kennt auch keine Arbeitslosigkeit. Das „Arbeite und Bete“ war im 6. Jahrhundert insofern revolutionär, als der freie Bürger im Römischen Reich keine Handarbeit verrichtete, sondern das Aufgabe der Sklaven war. Das Christentum hat diese Gesellschaftsstruktur überwunden, weil in den frühen Gemeinden Sklaven die gleichen Mitgliederrechte hatten wie die Freien. Wenn man die Regel des hl. Benedikt liest, dann hat die Arbeit einen hohen Stellenwert. Aber sie dominiert nicht den Zeitplan. Der Mensch wird in einen größeren Zusammenhang gestellt, der durch Gebetszeiten wie auch durch eine tägliche Stunde für Lektüre bestimmt wird. Diese Lebensordnung hat das Mittelalter geprägt. Weil es angeblich so dunkel war, hat die Neuzeit die Arbeit religiös aufgeladen und den Gewinn zur Gnadenprämie erklärt.

Es gibt Alternativen zur heutigen Arbeitsorganisation. Wenn Religion die Instanz ist, die Lebensvollzügen ihren Wert zuspricht, dann ist die Religion der Moderne eine der Arbeitseffektivität zur Steigerung des Gewinns. Was hätte Luther zu unserer Lebenswelt gesagt, was müsste Martin Schulz genauer fordern, wenn er mehr Gerechtigkeit verspricht, was sagen Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine, wie die Maxime von Marx heute verwirklicht werden müsste, wenn es um Aufhebung von Entfremdung geht.

Siehe dazu den Beitrag „Jedem seinen Platz“ 

Link: Gerechtigkeitslücke Digitalisierung


Kategorie: Analysiert

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