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Gefühl für Religion

Religion des Verstandes argumentiert, ob es Gott gibt. Die Kirchen betreiben weltweit mit vielen Fakultäten eine an Literaturwissenschaft und Philosophie angelehnte Wissenschaft. Aber basiert die religiöse Praxis nicht vielmehr auf Gefühl?

Zum Gottesdienst zu gehen, ist erst einmal eher eine Verpflichtung. Das setzt erst einmal einen Wochenrhythmus voraus. Der einzelne muss das Zeitfenster eingeplant haben. Wer erst am Morgen entscheidet, ob er auf die Kirchenglocke reagiert, lässt meist die anderen gehen. Er ist sogar beruhigt, dass die anderen die religiöse Kultur aufrecht halten. Dann bekommt er auch kein neues, kein Sonntagsgefühl, denn

Jeder Gottesdienst lässt ein Gefühl zurück

Wer am Ritus teilgenommen hat, in dem ist ein Gefühl entstanden. Stimmigkeit, der Fluss der Musik, ob ich in das Geschehen eintauchen konnte, ob die eigenen Erfahrungen mit der Predigt und dem Ritus verknüpft werden konnten. Ich will nicht zuletzt mit dem Guten, das in meinem eigenen Leben auf Entfaltung drängt, weiterkommen, bestärkt werden, Orientierung gewinnen, wie ich es konkret umsetzen kann. Dann muss ich mit den Widrigkeiten, den Enttäuschungen, den Kranken, den Toten zurechtkommen. Wo finde ich das Gegengewicht zu dem Vielen, das schief geht, zu den Unglücken und Verbrechen. Die Predigt wendet sich meist an meinen Verstand, aber auch hier spielt das Gefühl untergründig mit. Zwar checke ich mit dem Verstand ab, ob es Argumente gegen die Predigt gibt, ob man das Thema so denken kann. Aber wenn die Predigt nur eine Denkaufgabe war, dann tritt sie in dem Gesamteindruck des Ritus zurück. Sie gewinnt erst emotionales Gewicht, wenn meine Erfahrungswelten, mein Bedürfnis nach Orientierung, meinem Wunsch, eine bessere Welt aufzubauen zum Schwingen gebracht wurden. Es gibt sicher Predigten, die ein intellektuelles Erlebnis erzeugen, aber dann sind sie auch mit einer gelungenen Choraufführung vergleichbar. Es muss schon mit meinem Leben zu tun haben, wenn ich mit mehr Lebenswille in meinen Alltag zurückkehren soll. Hier setzt genau die Botschaft Jesu an. Er verspricht nämlich Neues, die Herrschaft Gottes, die sich gegen die Herrschaft der Trägheit, der Stagnation, der ungerechten Verhältnisse, der Gewalt durchsetzen wird. 

Die Hoffnung auf eine andere Welt braucht Musik

Wir haben eine Vorstellung, wie es sein sollte. Wir nennen diese einmal Paradies. Es muss diese Welt schon einmal gegeben haben, wir tragen die Erinnerung im kollektiven Gedächtnis mit uns. Paradies heißt auch: Es muss etwas schief gegangen sein, dass wir nicht mehr in dem schönen Garten, sondern jenseits von Eden leben müssen. Nach vorne blickend entfalten wir das Bild eines Himmels, in dem unser Leib nicht mehr den üblichen Gebrechen noch den zerstörerischen Leidenschaften unterworfen ist. Eine Welt, in der es eine direktere Unmittelbarkeit gibt, in der Musik in der Luft liegt und wir nicht mehr in Widerspruch zu anderen geraten, in der wir nicht mehr kämpfen müssen.
Es geht in der Religion um das Gefühl für eine andere Welt, wo endlich Gerechtigkeit herrscht, die Würde des einzelnen nicht mehr infrage gestellt werden kann, wo das Leben nur noch Freude ist. Diese Welt wird weniger durch die Worte als durch die Musik erfahren. Musik erst erzeugt die Stimmigkeit, die ich aus dem Ritus mitnehmen will.


Gefühl drängt zum Gebet

Diese Welt, die für kurze Zeit hervortritt, um dann von den Wolken des Alltäglichen wieder zugehängt zu werden, bleibt als Ahnung in mir lebendig. Beten ist dann die Praxis, an dieser Ahnung festzuhalten, um nicht im Alltag zu versinken. Denn Beten geht nur, wenn der Zustand dieser Welt nicht der Endgültige ist.
An dieser Grenze ist auch das Denken gefragt. Denn wenn es um diese andere Welt geht, dann kann sie nicht mit den Mitteln des Bösen, also mit Intrige, Schlechtes über andere reden, mit Überheblichkeit, mit Geld, mit Gewalt herbeigeführt werden. Der Weg Jesu, eben der Verzicht auf diese Mittel und dann auch die Konsequenzen zu ertragen, ist dann der einzige, der den Himmel offenhalten kann. Mord kann dann nicht in das Paradies führen, sondern nur Vergebung.

Wer die Qualitäten der kommenden Welt bereits hier zu verwirklichen sucht, der spürt Stimmigkeit, Freude am Guten und traut Gott eher zu, dass er eine solche Welt herbeiführen kann, nicht durch Strukturreformen, sondern in den Herzen entsteht.


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