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Friedhöfe machen Aussagen über das Leben

Der letzte Ort ist ein Zeichen dafür, wie der Mensch sich versteht, das heißt, wie er sich sein Leben und Sterben vorstellt. Der Besuch von Friedhöfen ist wie ein Gang durch die Kulturgeschichte. Thomas Holtbernd gibt uns einige Beobachtungen mit zum Gang an die Gräber an Allerheiligen.

In Deutschland gilt die Bestattungspflicht. Jeder Mensch wird in diesem Land auf einem Friedhof seinen letzten Ruheort finden. Weil dieser Ort ein so elementares Faktum ist, kann angenommen werden, dass sich gerade hier Grundlinien und Entwicklungstendenzen der Gesellschaft zeigen. Und die heutige Bestattungskultur, die man bei Besuchen auf Friedhöfen feststellen kann, zeigt sich in einer Schlichtheit, die ganz im Gegensatz zum Bewusstsein einer enormen Komplexität des menschlichen Denkens und Fühlens steht. Die Unruhe des Fragens nach der eigenen Endlichkeit scheint sich in einer größer werdenden Gleichheit der Grabstätten von einer Lebensaufgabe für den Einzelnen zu einer gesellschaftlichen Anfrage entwickelt zu haben. Was Friedhöfe als Spiegel im Umgang mit dem Tod aufzeigen, findet sich als Delegation des Sterbens an die Medizin oder der Lebensbewältigung an Lebensberater und Coachs wieder.

Orte des Erinnerns

Friedhöfe sind zuweilen schaurig. Wer nachts über einen Friedhof geht, beschleunigt seine Schritte, wenn er seltsame Geräusche hört. Allerheiligen oder am Totensonntag werden die Friedhöfe zu heimeligen Orten, die Lichter ergeben im Dunkeln eine gemütliche Atmosphäre. Bei Sonnenschein ist der Gang über einen Friedhof wie der Spaziergang in einem Park. Großflächige Friedhöfe wie der Zentralfriedhof in Wien sind gar durchkreuzt von Buslinien. Und manche Friedhöfe werden zu Kultstätten, weil dort prominente Stars begraben sind. Auf dem Père Lachaise in Paris, dem ersten Friedhof, der als Park angelegt worden war, finden sich Suchende, die das Grab sehen wollen von Balzac, Bizet, Bordieu, der Callas, Chopin, Camus, Chabrol, Chaplin, Laplace, Jim Morrison, Moustaki, Edith Piaf, Rossini, Saint-Exupéry und den vielen anderen, die dort ihre letzte Ruhestätte gefunden haben. Auf einem Friedhof wie dem Melaten-Friedhof lässt sich die neuere Geschichte der Stadt Köln ablesen. Auch hier finden sich Suchende, die zum Grab von Dirk Bach, Erika Berger u. a. wollen. In Berlin auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof ist die crème de la crème der deutschen Dichter und Denker versammelt: Hegel und Fichte, Herbert Marcuse, Bertolt Brecht und Helene Weigel, Heinrich Mann, George Tabori, wie auch Bernhard Minetti oder Egon Bahr und Johannes Rau (s. Sunermeier 2017).  Berühmte Friedhöfe sind deshalb so bekannt, weil Personen des öffentlichen Lebens dort begraben sind. Ihr Charakter hat etwas von einem Museum oder einer Touristenattraktion.

Der Tod vor Ort

Mag es Friedhöfe geben, die wie Parks angelegt sind oder wie Touristenattraktionen, so gibt es in den meisten Städten und Dörfern einfach nur die Orte, wo die Toten begraben sind. Und vielleicht ist gerade hier ablesbar, wie sich eine Gesellschaft wandelt. Das zeigt sich mittlerweile vor allem darin, dass die Zahl der Urnenbestattungen deutlich zugenommen hat, Wiesengräber sind fast zum Standard geworden und beim Gang in die älteren Teile vieler Friedhöfe finden sich verwaiste Gruften und Gräber, die Plätze sind leer. Geht man in einem vor allem protestantisch geprägten Landstrich über einen Friedhof – in katholischen Gebieten ist die Erdbestattung länger Normalität gewesen -, wird zunächst auffallen, dass die Grabstellen klein sind, denn für eine Urne wird nicht so viel Platz benötigt. In den Städten ist seit der Zunahme an Urnenbestattungen daher auch mehr Platz auf den Friedhöfen und es wäre möglich, die Friedhöfe wieder zentrumsnah anzulegen, was um 1900 gerade umgekehrt verlief, da man keinen Platz mehr hatte und an den Rand der Stadt ausweichen musste.

Der Ort der Toten

Der Friedhof ist der Ort der Toten. Hier begegnet der Lebende einem Etwas, was er nicht denken kann. Dennoch ist auf einem Friedhof der eigene Tod im Tod des Anderen präsent. Erfahrbar ist hier nicht der eigene Tod, sondern das was durch die jeweilige Friedhofs- oder Sepulkralkultur bildhaft und atmosphärisch „eingefangen“ wurde. Es gibt das Bedürfnis der Menschen wieder, „Die Unerträglichkeit der Vorstellung beherrschbar zu machen, dass sich das individuelle Leben mit dem Tod ins Nichts einer unbegreiflichen Endlosigkeit verlieren wird…“ (Hasse 2015, S. 358).

Ein anderer Ort

Man betritt den Friedhof, indem man durch ein Tor schreitet und so zu einem anderen Ort gelangt, der mit einem Zaun oder einer Mauer umfriedet ist. Es ist ein vom normalen Alltag abgetrennter Ort. „Und so ist vor allem der Friedhof ein heterotoper Raum, dessen Atmosphären den Mythos eines über den Tod hinausgehenden Lebens entfalten.“ (Hasse 2015, S. 359) Der Friedhof als abgeschlossener Raum lässt den Besucher in eine Atmosphäre der Stille eintreten. Obwohl ein Ort der Toten und damit eine Erinnerung an das eigene Nicht-Sein besänftigt der umfriedete Raum des Friedhofs die Unruhe des Menschen in seinem Fragen um die eigene Endlichkeit. Grundsätzlich wird dieses Fragen bei der Sorge. Der Verstorbene muss sich nicht mehr um sein Leben sorgen. Er ist ent-sorgt und ruht in Frieden. Den Hinweis auf diese Ent-Sorgung R.I.P. (requiescat in pace, ruhe in Frieden) findet man heutzutage nur noch selten auf einem Grabstein. Es scheint, dass die Sorge um das eigene Leben und damit auch um ein „gutes“ Sterben delegiert wurde. „Die Antworten der Wissenschaft bieten auf die Frage nach dem Tod weder Trost noch utopischen Halt.“ (Hasse 2015, S. 360). Die christlich begründeten mythischen Vorstellungen bilden in den Gesellschaften des 21. Jahrhunderts auch nur noch vereinzelt Trost. Insofern sind auch Friedhöfe zu flüchtigen Orten der Moderne geworden. Die Gräber erscheinen wie eine Massenware. Nicht mehr der Einzelne tritt hervor, es wird die große Zahl der Verstorbenen präsent. Deutlich wird dies, wenn man einen alten Friedhof und danach eine neu angelegte Begräbnisstätte besucht oder vom alten Teil in den neuen Teil eines Friedhofs geht. Im alten Teil eines Friedhofs findet man Gräber, die mit einer Hecke, einem Gitter, einem Zaun oder einer kleinen Mauer eingefasst sind. Der Einzelne hat hier seinen abgegrenzten Bereich. Die Individualität wird unterstützt durch Skulpturen oder Grabinschriften. Gleichzeitig finden sich Figuren oder schriftliche Hinweise auf die Vanitas, also darauf, dass der Einzelne sich nicht überheben soll. Im neueren Teil des Friedhofs finden sich dagegen Wiesengräber, größere Flächen für Urnenbestattungen, an deren Rand Stelen stehen, auf denen die Namen der dort Beigesetzten eingraviert sind. Die Atmosphäre vermittelt nicht mehr die Bedeutung des Einzelnen, sondern die Tatsache des Todes allgemein. Im alten Teil eines Friedhofs finden sich oft verwaiste Gräber, hier scheint sich der Anschluss an die nachfolgenden Generationen, die sich noch um das Grab kümmern könnten, abgebrochen zu sein. Der Tod wird hierdurch in einer doppelten Weise erfahrbar, da ist nicht nur irgendjemand gestorben, da ist auch jemand vergessen. Gerade diese Beobachtung drängt zum Nachdenken über den eigenen Tod und das Vergessenwerden. „Wahrscheinlich ist der Gedanke an den Tod – ähnlich wie das Ernstnehmen des Rufes des Gewissens oder wie eine persönliche Liebeserfahrung – eine der Möglichkeiten des Menschen, auf sich selbst zurückzukommen und die bleibende Differenz zwischen sich selbst und jeder möglichen sozialen Umwelt zu entdecken." (Scherer 1988, S, 19) Der Friedhof als Parklandschaft lädt zu diesem Nachdenken als Meditation ein. „Die Grünraumästhetik der neu angelegten außerstädtischen Friedhöfe war auf die Herstellung einer Atmosphäre der Faszination und Demut ausgelegt.“ (Hasse 2015, S. 364) Das Grausame des Todes ist eingebettet in eine Landschaft von Bäumen, Sträuchern und Blumen. Die müde machende Last und das resignierende Denken über die eigene Endlichkeit werden dem Heilenden der Natur gegenübergestellt. In einer Studie fand der Forscher Roger Ulrich heraus, „dass Krankenhauspatienten, die von ihrem Bett aus ein bisschen Gras und ein paar Bäume sehen konnten, schneller gesund wurden und weniger Schmerzmedikamente brauchten, als die, die nur Betonwände sahen,…“ (Ellard, S. 37) Ein Friedhof mit vielen Bäumen dürfte ebenso heilsam sein und den Menschen in seiner Trauer trösten sowie in seiner Unruhe im Fragen nach der eigenen Endlichkeit in eine entspannte Atmosphäre versetzen. Auf manchen Friedhöfen wird gar zur Buchlektüre eingeladen. Auf dem Friedhof an der Liesenstraße in Berlin, wo die Gebeine von Theodor Fontane in die Erde gebettet wurden, steht neben seinem Grab eine Bank und eines seiner Bücher liegt aus. So lässt sich die Welt des Todes vergessen und in eine andere eintauchen, gleichwohl sitzt man auf einem Friedhof.

Ein anderer Ort versus Erinnerungsort

Die Atmosphäre im neueren Teil eines Friedhofs erinnert dagegen eher an Erinnerungsfelder für gefallene Soldaten oder Kriegsopfer, wo zwar ein Kreuz mit Namen steht, jedoch niemand begraben ist. Ein solcher Ort ist offen, um den Blick auf die große Anzahl freizugeben. Die Sorge obliegt hier nicht den Hinterbliebenen, sondern der Stadt, dem Staat oder einem Verein. Ähnlich scheint die Sorge um die Erinnerung an den Verstorbenen delegiert an die Gemeinschaft zu sein. Die Verbindung von Erinnerung an den Verstorbenen und Grabstätte des Verstorbenen scheint zwar faktisch nicht aufgehoben zu sein, wird jedoch atmosphärisch immer weniger erfahrbar. Die Erinnerung ist kaum noch an den Ort gebunden, die Pflege des Grabes wird daher oft an eine Friedhofsgärtnerei übertragen oder ist wie bei einem Wiesengrab gar nicht notwendig. Die Hinterbliebenen verarbeiten ihre Trauer individuell und binden sie nicht an das „gesellschaftliche Ereignis“ Friedhof. Der Friedhof als ein Ort des Zusammentreffens von Menschen, die durch ein gleiches Schicksal verbunden sind, fällt damit fast vollständig weg. Allgemein dürfte dies kennzeichnend für eine digitale Gesellschaft sein, in der es für ein Problem das Internet als erste Anlaufstelle gibt. Statt einen Menschen nach dem Weg zu fragen, wird das Navi des Smartphones benutzt. Orte oder Menschen, an die eine bestimmte Atmosphäre gebunden ist, bilden nicht mehr den Bezugspunkt oder werden nicht mehr als Möglichkeit für eine bestimmte Erfahrung oder Begegnung wahrgenommen, sie werden organisiert über das Smartphone und zum Teil von entsprechenden Anbieter gebucht. Damit steigt der Erwartungsdruck, denn der Event wird von Profis organisiert und kostet Geld. Der Friedhof wird als Ort des Begräbnisevents erlebt und der Ort als solcher in seinen Erfahrungsmöglichkeiten gar nicht wahrgenommen, wodurch gleichzeitig der Respekt an oder vor diesem Ort schwindet.

Die Palliativgesellschaft

Der Philosoph Byung-Chul Han kommt in seiner Analyse des Umgangs mit Schmerz angesichts der Pandemie zu der Überzeugung, dass die modernen Gesellschaften sich daran gewöhnt haben, Schmerzen nur noch als zu behandeldende Störfaktoren zu definieren. „Heute herrscht überall eine Algophobie, eine generalisierte Angst vor Schmerzen.“ (Han 2020, S. 7) Und in der Folge kommt es zu einer Daueranästhesierung (Han 2020, S. 7) Dieses Ausgrenzen von Schmerzen verhindert den Beginn einer Erzählung (s. Han 2020, S. 51). Die Erzählungen könnten jedoch die brutale und schmerzhafte Realität mit einer anderen Wirklichkeit verbinden. Und genau dieses Fehlen einer Atmosphäre, die Geschichten, kulturelle Erzählungen, Bilder und mythologische Vorstellungen darbietet und möglich macht, sind auf modernen Friedhöfen kaum noch zu finden. Und wie Friedhöfe als Initialorte für Erzählungen an Bedeutung verloren haben, dürfte dies für andere Orte, an denen existenzielle Erfahrungen sich verdichtet hatten, ebenso gelten. Krankenhäuser zum Beispiel werden den Ökonomen und Medizinern überlassen und so zu Gesundheitsfabriken, in denen die Langsamkeit und das Unplanbare des Sterbens keinen Raum haben. Das Gegenmodell ist eine Einbettung existenziellen Fragens in einem bestimmten Ort, der eine beruhigende Atmosphäre vermittelt und das wird auf einem Friedhof durch Bäume, Sträucher und Wiesen erzeugt. Wissenschaftlich bestätigt ist mittlerweile, „dass es in grüneren Vierteln weniger unhöflich und kriminell zugeht. Leute, die dort wohnen, reden mehr miteinander, lernen sich besser kennen, und der hohe Grad an sozialem Zusammenhalt trägt nicht nur dazu bei, sie vor bestimmten Krankheiten zu schützen, sondern sie werden auch seltener zum Opfer von Kleinkriminalität.“ (Ellard 2015, 46)

Erzählort oder Event

Der Friedhof ist ein Ort, an dem die Abwesenheit eines Menschen anwesend ist. Heutige Friedhöfe bezeichnen diesen Tatbestand lediglich. Der Friedhof scheint zu einer Vergnügungszone der traurigen Art geworden zu sein. Und mit Byung-Chul Han lässt sich sagen: „Es vergnügt, statt zu verwandeln. Nur Schmerz bewirkt eine radikale Veränderung. In der Palliativgesellschaft setzt sich das Gleiche fort.“ (Han 2020, S. 54) Die skulpturalen Hinweise auf die Vergänglichkeit des Lebens, auf die Vanitas, den Schnitter, der zu jeder Zeit kommen kann, die Schrecken des Todes sind abgelöst von einer Gleichförmigkeit der Gräber.

Die Erzählungen, die sich vom Ende her, also der Begräbnisstätte, erzählen ließen, sind als Narrativ allein auf die Tatsache der Grabstätte beschränkt, die Erinnerung ist ins Individuelle ausgelagert. Von hieraus lassen sich dann auch nur schwer Erzählungen über das Sterben initiieren. Und somit wird das Sterben beschränkt auf das Ergebnis, nämlich den Tod. Das wiederum macht es schwer, den Sterbeprozess auch als eine Erzählung zu verstehen. Das Sterben wird auf das Medizinische reduziert und Fragen um die Dauer bis zum Exitus, das Verkürzen des Leidens usw. stehen im Vordergrund. Es wird schwer, das Eintreten des Todes abwarten zu können. Hospizbewegungen, Trauergruppen, Sterbebegleitungen sind der Versuch, eine neue Kultur zu entwickeln. Allerdings stehen auch sie in der Gefahr, den Schmerz des Abschieds palliativ zu unterlaufen. Die beschriebene Friedhofskultur und –atmosphäre könnte als Hinweis dazu dienen, dass neben einer guten medizinischen Versorgung des Sterbenden die Initiierung einer Erzählkultur gefördert werden sollte. Wenn im Sterben und bei der Sterbebegleitung Worte und Erzählungen gefunden werden können, auch wenn es ein schmerzhafter Prozess ist, kann die Unruhe im Fragen nach der Endlichkeit einen Ort oder eine Atmosphäre finden, wie es ein Friedhof sein kann, und damit das Loslassenkönnen erleichtern, ohne die Erzählungen gleich wieder als „palliative Technik“ zu missbrauchen. Und allgemein kann die Erfahrung, die man auf einem Friedhof geschützt machen kann, die Ambivalenz des Lebens leichter ertragen lassen. Der Friedhof bietet, vielleicht früher mehr als heute, die Möglichkeit, sein Leben vom Ende aus und damit mit der vernichtenden Erkenntnis des Nicht-Seins als ein Aufgehobensein des Schrecklichen in einer meditativ-entspannenden Atmosphäre exemplarisch als ausgewogen und somit gelungen erfahren zu können.


Kategorie: Entdecken

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