Foto: hinsehen.net

Erfahrungen: Und weiter?

Es geschieht etwas und wir nehmen es wahr. Unsere Wahrnehmungen verbinden wir mit dem, was wir bereits kennen. Gefühle entstehen und begleiten diesen Prozess. Wo beginnt der Prozess der Erfahrungen? Wie beeinflussen unsere Gedanken die Gefühle und wie wirken die sich auf das aus, was wir meinen als Erfahrung annehmen zu können? Können wir uns auf unsere Erfahrungen verlassen oder handelt es sich letztlich um eine Fata Morgana? Ein Antwortversuch erweist sich als ein Fragen ins Unendliche und lässt Gewissheiten über Fakten ins Wanken geraten.

Die Philosophen haben mit Beginn der Vorsokratiker oder Naturphilosophen gefragt, was das eigentlich ist, was wir als real wahrnehmen. Was erfahren wir, wenn wir etwas erfahren? Worauf bezieht sich unsere Erfahrung? Ist es etwas, was objektiv in der Wirklichkeit existiert oder ist es ein Fantasiegebilde oder eine Mischung von Wirklichkeit und Fantasie? Diese Fragen sind in der Geistesgeschichte nie letztgültig beantwortet worden. Die Fragestellung wurde immer komplexer und die neuere Physik bestätigt scheinbar das unauflösliche Dilemma. Es bleibt, dass im Alltag die Beantwortung dieser Frage zunächst kaum eine Rolle spielt. Das ständig präsente Wissen um die Schwierigkeit dieser Frage würde uns bei alltäglichen Handlungen in den Wahnsinn treiben.

Die Wahnsinnigen als Kundschafter

Gemeinhin sind wir der Überzeugung, dass wir mithilfe unseres Verstandes solch schwierige Fragen beantworten können. Wir brauchen unsere Vernunft, um etwas formulieren, eine Beobachtung systematisieren oder überhaupt eine These für unsere Beobachtungen aufstellen zu können. Allerdings bleiben wir mit unserem Verstand in dem gefangen, was andere bereits vorausgedacht, was wir als richtig und falsch vermittelt bekommen haben. Eine Möglichkeit, aus diesen gewohnten Vorannahmen auszubrechen, ist die Welt der Wahnsinnigen. Philosophen könnten in der Psychiatrie gerade zum Thema Erfahrungen viel lernen. Hier gelten die gewohnten Regeln der Wirklichkeit nicht. Menschen sind fest davon überzeugt, verfolgt zu werden, hören Stimmen, schauen durch Wände hindurch, bekommen geheime Botschaften und machen Erfahrungen, die der Normale als gefährlich, abgedreht oder verrückt definiert. Viele Literaten, bildende Künstler, Filmemacher oder auch Musiker waren fasziniert von dieser verrückten Welt. Philosophen, Theologen, Soziologen und andere Geisteswissenschaftler scheinen eine gewisse Hemmung zu haben, sich dieser Welt auszusetzen. Das mag auch damit zu tun zu haben, dass zum Beispiel Religion nahe am Wahnsinn liegt. Manches Mal kann nicht entschieden werden, ob ein Mensch religiös erleuchtet ist oder einfach gerade nur eine Psychose hat. Philosophische Traktate, die im Zustand des Wahns geschrieben wurden, sind meist schwer verständlich und werden als nicht verwertbar abgestempelt. Dennoch machen „Verrückte“ Erfahrungen und sie könnten als Kundschafter einer uns unbekannten Welt befragt werden, um unser Denken über Normalität zu überprüfen und so zu vielleicht grundlegenden Gedanken zu unseren Erfahrungen zu kommen.

Die Konzepte des Wahnsinns

Die Analyse „verrückter Welten“ wird immer zu der Erkenntnis führen, dass die Inhalte nicht originär sind, sie beziehen sich auf in der Geschichte und Kultur vorgegebene Muster. Diese Bilder, Annahmen, Gewissheiten werden neu verbunden, manche nennen es vielleicht originell. Und es kann erstens gefragt werden, warum in der normalen Welt solche Verbindungen nicht gemacht werden und zweitens, welche Gefühle und auch Gedanken mit dieser Andersartigkeit entstehen? Der Kontakt mit dem Wahnsinn führt vielleicht zu der grundsätzlichen Erkenntnis, dass wir die Bemühungen um eine objektive Wahrnehmung der Wirklichkeit lediglich benutzen, um der Möglichkeit der Unbeantwortbarkeit auszuweichen. Unsere Erfahrungen lassen sich möglicherweise gar nicht als eindeutige Fakten definieren. Wir können – und das ist oft die Erfahrung in der Begegnung mit Wahnsinnigen – nicht mehr entscheiden, ob etwas objektiv und realistisch so ist oder vielleicht nicht doch auch ganz anders möglich ist. Mit dieser Erfahrung, die manche vielleicht auch unter Drogeneinfluss gemacht haben, erscheint uns die Welt der objektiven Wissenschaften und des eindeutig definierten Alltags zwar beruhigend, doch der Verstand hat eine gewisse Ahnung davon, dass es auch eine andere Wirklichkeit gibt. Dass diese Wirklichkeit unter Drogeneinfluss oder im Zustand einer Psychose stattgefunden hat, widerspricht der gemachten Erfahrung ja nicht. Die Erfahrung bleibt als reale Erinnerung, wie auch immer ich sie erkläre. Und daran schließt sich die Frage an, wie Gesellschaften die Realität und Objektivität erklären würden, in denen Rausch oder Wahnsinn mitkonstitutiv wären. Oder anders gefragt: Ist es für das Verständnis einer Gesellschaft nicht wesentlich, danach zu forschen, welche Versuche unternommen werden, dem Wahnsinn, dem Rausch, dem Irrealen auszuweichen und wie sich aus dieser Vermeidung Konstrukte von Gesellschaft entwickeln?



Kommentare (0)

Keine Kommentare gefunden!

Neuen Kommentar schreiben

Zum Seitenanfang