Lichter verschlungen - eine Gestalt ist noch nicht erkennbar- Foto: hinsehen.net E.B.

Ein Epochenwandel wird uns aufgezwungen

Die Weihnachtstage geben Raum für Gespräche über die größeren Zusammenhänge. Viele sagen, dass wir in einem Epochenwandel stehen. Mit Sicherheit gehen wir in eine Umbruchszeit mit vielen Turbulenzen.

Epochenwandel gibt es nicht jedes Jahrzehnt, aber es gibt ihn, so das Zeitalter der Reformation und die Französische Revolution. Sie beendeten jeweils ein ganzes kulturelles Gefüge, so das Mittelalter und dann das Zeitalter des Barock. Sind wir im Moment dabei, wie ein Schnecke die bisherige Lebensform, das Gefüge der Kultur aus Mode, Musik, Wissenschaft, Bildungssystem und das religiöse Grundempfinden zu verlassen? Dann wären wir bereits auf der Suche nach einem neuen Gehäuse. Sind wir aber Willens, das Bisherige zu verlassen? Wer wäre der Luther, der uns aus dem unbewohnbar gewordenen Haus hinausführt, um neuem Denken Platz zu machen?

Die Suche nach nationaler Identität löst die Probleme nicht

Die Protagonisten der Französischen Revolution sprachen vom Ancienne Régime, der alten und damit überholten Herrschaftsform. Eine ähnliche Strömung der Unlust unterspült die Fundamente des europäischen Hauses. Nicht nur die Engländer sind bereit, auf Wohlstand zu verzichten, um sich vom Gestrüpp europäischer Vorschriften zu befreien. Das Gefühl, wieder Herr im eigenen Hause werden zu müssen, hat wohl auch die Wahlen 2016 in den USA entschieden. Diese Suche nach nationaler Identität scheint auf dem Vormarsch. Sie will jedoch eine Welle, die auf sie zurollt, den drohenden Klimakollaps nicht ernst nehmen. Das Klima ist im Gegensatz zu den nationalen Bewegungen international, denn es gibt nur ein Klima.

Die Umwelt erzwingt Umdenken

Ob die nationalen Strömungen tatsächlich einen Epochenwandel bewirken, entscheidet sich an ihrer Kompetenz, die weitere Erderwärmung zu stoppen. Dazu müssten sie die Digitalisierung in ihrer jetzigen Speerspitze der Künstlichen Intelligenz in Bahnen lenken, damit die Um-Organisation der Arbeit nicht für zu Viele zum Desaster wird. Denn ohne kluge Politik werden zu Viele auf der Strecke bleiben. Das Bildungssystem müsste den Wandel auffangen, ist aber dazu nicht vorbereitet. Die nationalen Bewegungen werden wohl an der mangelnden Kompetenz, mit den Herausforderungen der Umweltfragen und der Digitalisierung fertig zu werden, einfach zerlaufen. Da die bisher tragenden Kräfte, die sich in den Vereinen, den Kirchen, der SPD organisiert hatten, nicht in Aufbruchsstimmung sind, um ein neues Gebäude für das Zusammenleben zu entwerfen. Anders als zu Zeiten Luthers oder der Französischen Revolution fühlt man sich in der jetzigen Behausung noch ganz wohl und will sie nicht für eine andere, unsichere Konstruktion verlassen. Es scheint so, dass der Epochenwandel, den viele herannahen sehen, nicht aus einem neuen kulturellen Aufbruch erwächst. Es winkt nicht das Neue, das an die Stelle des Bisherigen treten könnte. Die tiefgreifenden Veränderungen werden uns aufgezwungen.

Was sich ändern wird

Das bisherige, auf Wachstum gegründete Wirtschaftssystem, ist nicht durchzuhalten. Nicht nur braucht Wachstum zusätzliche Energie, sondern die technischen Systeme sind sehr wartungsaufwändig. Schon jetzt reichen sowohl bei der Bahn wie im Straßenbau die Kräfte für die Instandhaltung nicht mehr. Auch die technische Infrastruktur, über die die digitalen Medien laufen, werden wie Brücken und Schienen in absehbarer Zeit viele Reparaturarbeiten erzwingen. Die maroden Brücken zeigen deutlich, dass die Investitionen in den weiteren Ausbau der technischen Systeme zurückgefahren werden müssen. Da keine Technik versprechen kann, die Erderwärmung zurückzufahren, ist ein Zurück zur Natur geboten. Es muss zu einer intensiven Beschäftigung mit der Pflanzenwelt kommen, weil die Bäume und mit ihnen die Pflanzen für das Gleichgewicht der Erdatmosphäre effektiver sind als neue Techniken. 
Die hier formulierten Entwicklungen entspringen nicht einer neuen Kultur, die durch ein anderes Denken und ein neues Bild vom Menschen freigesetzt worden sind. Sie werden der Menschheit durch Klimawandel und Digitalisierung insgesamt aufgezwungen. Dass keine neue Kultur einen Epochenwandel herbeizwingt, ist am Denken selbst abzulesen. Ausdruck gewinnt, ablesbar. Es waren jeweils Publikationen, ob bei Luther Flugblätter oder später Bücher, die den Entwurf des Neuen publik gemacht haben. Da das Denken sich in der Philosophie Ausdruck verschafft, müsste sich das Neue in Büchern ankündigen. Zumindest auf der letzten Frankfurter Buchmesse war Philosophie faktisch nicht präsent. 

Es fehlen noch die Denkmodelle für die Konstruktion eines neuen Hauses

Ein Epochenwandel hatte jeweils einen neuen Zugang zur Erkenntnis als Grundlage. Luther brauchte das Gebäude der mittelalterlichen Metaphysik nicht mehr, weil er mit der Philologie die biblischen Texte neu zum Sprechen bringen konnte. Hatte bisher die Philosophie in der Scholastik den Rahmen bereitgestellt, in dem die christlichen Grundaussagendargestellt wurden, näherte sich Luther mit den Humanisten den biblischen Texten in ihrer Ursprungssprache Hebräisch und Griechisch. Erasmus von Rotterdam hatte die Vorarbeiten geleistet. Verbunden mit der Drucktechnik Gutenbergs konnte das bisherige kulturelle Gebäude zum Einsturz gebracht werden. 
Die Französische Revolution war durch die Philosophie der Aufklärung vorbereitet. Das Bisherige, das durch die Tradition legitimierte Lebensmodell, musste vor den Richterstuhl der Vernunft treten, die als neue oberste Instanz entschied, was mit in die Zukunft genommen werden durfte und was ins Museum wandern musste. Ob es heute bereits eine Philosophie gibt, die die tragenden Balken für die Errichtung eines neuen Fachwerkhauses bereitstellt, ist nicht zu erkennen. 

2020 wird wohl ein weiteres Jahr der Unentschiedenheit

Es wird sich erheblich etwas ändern, die Umweltproblematik zwingt dazu, die jüngeren Jahrgänge spüren es deutlich. Mit welchem kulturellen Ansatz, mit welchem Denkmodell und welchem Menschenbild das gelingen kann, ist am Beginn des Jahres 2020 nicht absehbar. Die Einsicht, dass sich Vieles ändern muss, führt zur Offenheit für Neues. Die Frage, ob das bei bisher tragenden Institutionen bestimmend geworden ist, muss verneint werden. Die fünfzigjährigen Bischöfe und Laienvertreter der Katholischen Kirche basteln noch an der bereits marode gewordenen Hütte herum. Die SPD hat sich auf die Suche nach Leitfiguren gemacht, die seit ihrer Wahl einfach nichts mehr sagen. Der Wandel kann aber nur ohne Konfessionskriege und ohne die Eroberungszüge der Französischen Revolutionsheere gelingen, wenn das Kulturelle Haus, so das der Katholischen Kirche wie der SPD, nicht für die älteren Jahrgänge wohnlicher gemacht, sondern so gestaltet wird, dass die Millennials und die Generation Z da auch einziehen können. 
Der Autor, aus der Achtundsechziger-Generation, ist gespannt, was die Jungen auf den Tisch legen. Bei hinsehen.net ist der Platz dafür freigeräumt.



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