Rom - Antike und Christentum Foto: hinsehen.net, E.B.

Die Spätantike als Prägeform der Moderne

Die spätantike Philosophie ist eine Philosophie der Innerlichkeit – und damit Vorbotin des Denkens der Moderne. Zudem wurde sie nicht nur im Denken betrieben, sondern sollte das Leben gestalten. Einen gründlichen Einblick eröffnet Theo Kobusch mit „Selbstwerdung und Personalität“.

Denkform als Lebensform

Vor allem dem französischen Philosophen Pierre Hadot haben wir es zu verdanken, dass in den letzten Jahren neu entdeckt wurde, wie Philosophie sich in der späten Antike nicht nur als Wissenschaft, sondern vor allem als Lebensform begriffen hat: weniger als theoretische und mehr als praktische Metaphysik, deren Ziel die Umgestaltung des Menschen war. Dieses Selbstverständnis klingt beispielweise im Römerbrief 12, 2, an, wenn Paulus schreibt: „Lasst euch im Innern umgestalten zur Neuheit des Denkens, damit ihr urteilsfähig werdet.“ Der Weg zur Umgestaltung führt den Menschen in sein Inneres, die dazu erforderlichen Mittel sind, wie Hadot es ausdrückt, „exercices spirituels“: spirituelle Exerzitien, geistige, ja geistliche Übungen, die den Menschen seinem Lebensziel, das als Selbst- und Gotteserkenntnis bestimmt wird, näher bringen. Das Denken dient immer auch der Formung des Lebens und zielt deshalb vorrangig auf praktisches Wissen: „Theorie ist also selber praktisch, insofern sie das Leben fundamental verändert. Und eben dies ist das entscheidende Kriterium für das, was Lebensformwissen ist: Findet eine metamorphȏsis, eine Transformation, eine Veränderung des Lebens bzw. des wissenden Subjekts statt oder nicht, das ist die Frage“, resümiert Theo Kobusch gleich zu Beginn. (S. 7)

Spätantike Philosophie ist eine Philosophie der Innerlichkeit

Diese Philosophie ist diesem Sinne ist, wie der Verfasser herausarbeitet, Vorbotin des Denkens der Moderne. Das gilt für die pagane wie für die christliche Philosophie gleichermaßen. Dieses Erbe hat die Moderne im 17., 18. und 19. Jahrhundert bewusst angetreten. (S. 9) Die antiqui-moderni-Beziehung, schreibt Kobusch, war ursprünglich alles andere als eine querelle – ein Streit. Wir allerdings, „die Modernsten“, haben inzwischen vergessen, was das Denken an der Schwelle zur Moderne antrieb. (S. 9) Vergessen ist heute beides: sowohl die Exzellenz der spätantiken Philosophie als auch die Renaissance dieses Erbes als Impuls der Moderne.

Denkformen der Spätantike in der Gegenwart

Einer Vergegenwärtigung dieser Zusammenhänge hat Kobusch ein jüngstes Buch gewidmet, das zugleich eine Summe jahrzehntelanger Forschungsarbeit darstellt. Der Leser, den der Verfasser an der Hand nimmt, um mit ihm gemeinsam auf Spurensuche zu gehen, ist verblüfft: Auf Schritt und Tritt begegnen ihm die Denkformen der spätantiken Philosophie in der Gegenwart, vermittelt vor allem durch die Köpfe des Deutschen Idealismus. Hadot hat, wie erwähnt, die Eigentümlichkeit der Spätantike im Blick auf den Zusammenhang von Denk- und Lebensform vergegenwärtigt; Kobusch folgt dieser Spur und erschließt eine weitere, zweite und nicht minder bedeutsame Eigentümlichkeit der Spätantike: den ausdrücklich universalen Anspruch der christlichen Philosophie, wie sie vor allem in der Entfaltung der Lehre vom inneren Menschen zum Ausdruck kam. Hier findet sich der ausgearbeitete Entwurf einer Subjektivitätsphilosophie, die, wie ein heute verbreiteter Gemeinplatz behauptet, doch eine Errungenschaft der Moderne darstellen soll. Dass sie aber tatsächlich spätantikes Erbe ist, belegt Kobusch nachvollziehbar und auf das eindringlichste.

Veränderung durch Metaphysik

Metaphysik in der Spätantike galt als eine Lebensform, durch die das betrachtende Subjekt selbst verändert wird. Deshalb spricht Kobusch von „praktischer Metaphysik“. Der Begriff der Metaphysik selbst erfährt eine „fundamentale Bedeutungsveränderung“, (S. 13) und zwar im paganen wie im christlichen Kontext gleichermaßen – wobei beide Kontexte eng miteinander verbunden sind durch einen gemeinsamen Philosophiebegriff. (S. 21) Vielleicht am besten sichtbar wird dieser grundlegende Wandel, wie er sich in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten vollzog, in der Veränderung des Gottesbegriffs. Wurde in klassischer Zeit Gott als das vollkommen Vollendete gedacht, vollzieht sich in der Stoa wie im Christentum eine Moralisierung des Gottesbegriffs, „die es mit sich bringt, dass Gott als die lautere Freiheit selbst gedacht wird“, die Raum lässt für andere Freiheit zur Vollendung des göttlichen Werkes. Deshalb ist es ganz folgerichtig, wenn sich pagane wie christliche Philosophie als eine Anleitung zur „Angleichung an Gott“ verstehen. (21)

Eine solche Angleichung vollzieht sich auf doppelte Weise: als die Erkenntnis des Seienden als einem Seienden in der Metaphysik sowie als gute Lebensführung im Sinne der Ethik. Theoretische und praktische Subjektivität sind eng miteinander verwoben – als Lebensform einer Denkform. Damit nimmt die spätantike Philosophie den sokratisch-platonischen Impuls auf, Wissen sei vor allem Sorge um die Seele, und findet in diesem Impuls den Perspektivpunkt ihres Selbstverständnisses. Wer sich als Philosoph diesem Bezug verpflichtet weiß, ist vor esoterischer Hermetik gefeit; denn Selbstsorge ist die Aufgabe ausnahmslos jedes Menschen; und in diesem Sinne versteht sich die spätantike Philosophie als eine – später, in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts aus ähnlichen Erwägungen heraus wieder aufblühende – so genannte Popularphilosophie: im Sinne ihrer Beziehung auf Gegenstände, die jedermanns Sache sind; die Fragen, um sie sich müht, gehen ausnahmslos jedweden Menschen an. Zudem ist sie sich, lange vor Immanuel Kant, der Grenzen aller spekulativen, also theoretischen Vernunft bewusst. Aus diesem Selbstverständnis erwächst eine Philosophie beispielsweise bei Gregor von Nyssa, „die all ihr Tun, auch ihre höchste Tätigkeit, die Metaphysik, als eine Übung des Geistes ansieht, in der das erkennende Subjekt eine fundamentale Veränderung, eine Transformation des Selbst erfährt.“ (S. 262) Dieser Begriff der Umgestaltung, „der jahrhundertelang ein tragender Begriff dieser Art von Metaphysik blieb, markiert den eigentlichen Unterschied zur Metaphysik aristotelischen Typs“, (S. 262) die doch am Ende immer Naturphilosophie bleibt. Die Erkenntnis des Göttlichen – so sagen es die neuplatonischen wie die christlichen Philosophen – mündet ein in eine Umgestaltung des Geistes und damit in eine Gottwerdung des Menschen im Sinne seiner Angleichung an das göttliche Wesen. Dieses Denkens wird elfhundert Jahre später in der berühmten „Rede über die Würde des Menschen“ von Pico della Mirandola wieder aufgenommen.

Freiheit macht den Menschen Gott ähnlich

Vor allem die Verbindung – die in weiten Teilen eine Synthese ist – von stoischer Philosophie und christlicher Religion führte zur Theorie vom inneren Menschen, (S. 302) die besonders prägnant von Aurelius Augustinus entfaltet wurde: „in interiore homine habitat veritas“, lautet der berühmte und bekannte Satz aus „De vera religione“. Gott findet sich im Innersten des Menschen. Und angesichts der schon erwähnten Einsicht in die Schwäche der menschlichen Vernunft wird das, was Gott und Mensch verbindet, weniger in seiner Intellektualität, seiner Geistigkeit, gesehen, sondern immer mehr in der Freiheit, die Gott und Mensch – wenn auch in unterschiedlichen Graden – gemeinsam ist. Umso mehr Gewicht gewinnt dadurch die praktische Subjektivität: Wenn der Mensch auf die Verwirklichung seiner Freiheit hin angelegt ist, sind die Kriterien, nach denen er von seiner Freiheit Gebrauch macht, von entscheidender Bedeutung. Nach welchen Maßstäben wird der menschliche Wille geleitet und welche Bedeutung hat in diesem Zusammenhang das Gewissen? Diese Fragen erhalten jetzt großes Gewicht.
Von Gregor und Augustinus ist es ein langer Weg bis hin zu Pico, und noch länger ist der Weg bis an die Schwelle zur Moderne; gleichwohl findet sich die Denkform der Renaissance von der Antike vorgegeben und lebt später im Deutschen Idealismus wieder auf: „Die ‚Person‘ steht … für das dem Menschen selbst Unverfügbare, das er selbst ist, die ‚Handlung‘ aber ist das in seiner Verfügungsgewalt, d. h. in seine Freiheit Gelegte.“ (S. 307) So sieht es beispielsweise auch Kant. Auf diese Weise erscheint der Mensch, indem er die Freiheit im Lichte seines Gewissens gebraucht, als der Vollender des göttlichen Werkes. (S. 308)

Kobuschs Buch ist ein kluger und eindrucksvoller Beleg für die Tragfähigkeit der gelegentlich bestrittenen Hellenisierungsthese, die alles in allem behauptet, dass die christliche Religion mit Hilfe der hellenistischen Philosophie zu seiner begrifflichen Form gefunden hat. Die Kenntnis des Verfassers ist überragend, seine Fähigkeit, den schier unübersehbaren Stoff nachvollziehbar aufzubereiten, beneidenswert. So ist ein opus magnum entstanden, ein großartiges Buch, das dazu angetan ist, die Moderne von ihren Quellen her zu verstehen, und das die Gegenwart dazu auffordert, nicht länger zu vergessen, wer sie gezeugt hat – auch deshalb, um nicht mit verbunden Augen in jede Sackgasse des Denkens laufen zu müssen. Hoffentlich findet dieses Buch Leser in Fülle.

 

 


Kategorie: Gelesen

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