Die Vorstellungen, wie die Gottheit mit der Erde in Beziehung steht, haben sich im Verlauf der Menschheitsgeschichte erheblich verändert. Die neuen Sichtweisen sind mindestens so einschneidend wie die Erkenntnis, dass nicht die Erde um die Sonn kreist. Schon 2000 Jahre vor Kopernikus wurde den Menschen klar, dass die Götter nicht wie Zeus auf einem Berg sozusagen in Nachbarschaft der Menschen wohnen, sondern in einer gänzlich anderen Sphäre. Damals hatte allerdings auch in der Vorstellungswelt der Juden jedes Volk eine eigene Gottheit. Der Pharao war eine Erscheinung dieses Gottes. Weil der jeweilige Gott für ein bestimmtes Volk zuständig war, musste er auch in dessen Territorium einen Ort haben. Um 500 vor Christus wurde diese Vorstellung überwunden. In Griechenland gelang das mit philosophischen Denkbewegungen. Im jüdischen Kulturraum waren es Propheten. Wie die Texte von Parmenides, Heraklit, Platon, Aristoteles sind auch ihre Ansprachen und damit ihre Argumentation erhalten. Amos, Hosea, Micha, Jesaja stellen wie die griechischen Denker fest, dass die Vorstellung, die sich die Menschen von Gott und seinem Handeln machen, nicht mehr "passen". Sie suchen neu, denn das, was sie als Weltdeutung vorfanden, erklärt nicht mehr, was sie beobachteten. In einer solchen Phase befinden wir uns offensichtlich wieder. Der Gott, der in den Kirchen gepredigt wird, erscheint nicht mehr mit der Welt zu korrespondieren. Die Menschen suchen nach einer neuen Deutung ihrer Erfahrungen.
Der Mensch sucht immer nach einer Deutung
Religion wie Philosophie sind "der Reim, den sich der Mensch auf seine Beobachtungen macht". Wenn sich das bisherige Weltbild nicht mehr auf das "reimt", was er beobachtet, fällt die bisherige Vorstellung zusammen. Wir sind Zeugen solcher Zusammenbrüche. Das riesige Sowjetreich ist kollabiert, weil seine Theorie, wie eine Gesellschaft funktioniert, nicht mehr passte. Für das Volk Israel war es die militärische Niederlage gegen die Großmacht Assyrien, die den nördlichen Teil Palästinas, das Gebiet, in dem Jesus 500 Jahre später wirkte, unterwarf. Nur das Gebiet im südlichen Gebirge mit Jerusalem und Bethlehem blieb unabhängig, wurde dann von der neuen Großmacht der Babylonier erobert und zerstört. Das führte zu der dringenden Frage: Hatte der Gott dieser Großmacht den Gott der Juden unterworfen? Wenn die Juden diese Frage mit Ja beantwortet hätten, dann wäre das Judentum längst wie die Götter Assurs oder Babylons, Roms oder der Sowjetunion verschwunden. Weil ein Hosea und Jesaja Gott nicht als bloßes Vorstellung des Menschen sahen, gelangten sie zu der Einsicht, dass Gott auch der Herr über Assur ist. Es gibt nur einen Gott. Er hat Assur und später Babylon die Macht gegeben, Israel zu erobern. Als Grund nennen die Propheten den Glaubensabfall der Israeliten. Als die Babylonier beginnen, sich auch das Gebiet des Stammes Juda zu unterwerfen, rät Jeremias von militärischen Widerstand ab.
Gott kämpft nicht gegen andere Götter
Die Vorstellung von Gott weitete sich damit. Er ist nicht der Volksgott der Juden, sondern aller Völker. Er setzt seine Anerkennung auch nicht mittels eines Weltreiches durch. Diese Vorstellung ließ die katholische Kirche erst mit dem Konzil in den sechziger Jahren endgültig hinter sich. Im 19. Jahrhundert war sie noch Teil der europäischen Weltherrschaft. Sie konnte ihre Missionserfolge unter dem Schutz der Kolonialmächte einfahren, weil diese durch die Verbreitung des Christentums ihre Macht in den Ländern zu stabilisieren hofften. Die kulturelle Überlegenheit des Christentums verdrängte die Religionen, die noch im Weltbild territorialer Gottheiten verhaftet waren.
Anders als der Islam haben es die Juden ohne Militär geschafft, auch mittels des Christentums ihre Gottesvorstellung weltweit zu verbreiten, weil Jesaja und andere Propheten die Vorstellung überwunden haben, Gott bediene sich politischer Reiche, um seine Botschaft zu verbreiten. Diese Durchdringung der Welt mit ihrer Vorstellung von Gott schürt bis heute das Misstrauen gegen die Juden. Der Antisemitismus unterstellt den Juden besondere Machenschaften. Er hat in den „Protokollen der Weisen von Zion“ das den Juden das Anstreben der Weltherrschaft unterstellt, ein wirkmächtiges Dokument in die Welt gesetzt, das nachweislich nicht von Juden verfasst wurde und nicht ihre Philosophie beinhaltet. Oder zielt der Staat Israel auf ein größeres Terrain als die Israeliten unter David und Salomon besaßen? Während die Juden seit dem 7. Jahrhundert v.Chr. längst auf geistige Expansion setzen, wollten die Nationalsozialisten die jüdischen Gene vernichten, um den Einfluss der Juden zu unterbinden.
Die USA haben jüdisches Know-how übernommen
Nach dem Zusammenbruch des Sowjetsystems wähnten sich die USA als die einzige Großmacht. Die Sowjetunion war ebenfalls angetreten, die ganze Welt unter ihren Einfluss zu bringen. Die USA üben ihre Weltmacht mit Flugzeugträgern aus, die rund um den Globus stationiert sind, ihre Währung dominiert die globalisierten Wirtschaftsströme, ihre Filme und Songs werden weltweit abgespielt, ihre Digitalgiganten sind auf allen Bildschirmen präsent. Kein Schriftsteller, keine Schauspielerin, kein Erfinder oder Dirigent, allenfalls Sportler können mit dem Personal mithalten, das der USA zu einer Welt bestimmenden Machtstellung verhilft. Sie braucht sich keine weiteren Territorien einzuverleiben und war auch, anders als Spanien oder England, keine Kolonialmacht. Dagegen wirkt der Expansionsdrang Chinas wie eine Idee aus dem 19. Jahrhundert.
Das Reich Gottes braucht kein Territorium
Jesus hat die Vorstellungen der Propheten weitergeführt. Er verkündet die Herrschaft Gottes. Diese braucht keine Soldaten und auch keine Finanzstrategien. Diese Herrschaft überkommt den Menschen nicht von außen, sondern entwickelt sich aus Samenkörnern oder durchdringt die geistige Welt wie Sauerteig das Mehl. Ihr Herrschaftsinstrument ist die Idee der Gerechtigkeit und der Solidarität. Ihr Kapital, das nicht aufgezehrt werden kann und dessen Wert Gott selbst garantiert, ist die Liebe. Dieses Gottesreich braucht kein ausgewiesenes Territorium wie den Jerusalemer Tempel oder die Kaaba in Mekka. Zur Frau am Brunnen vor der Stadt Samaria sagt Jesus: „Die Stunde kommt und sie ist schon da, zu der die wahren Beter den Vater anbeten werden im Geist und in der Wahrheit; denn so will der Vater angebetet werden.“ Im Matthäusevangelium sagt Jesus zu den Gegnern: "Ich sage euch, dass Gott dem Abraham aus diesen Steinen Kinder zu erwecken vermag;" - die ihn erkennen und zu Trägern seines Heiligen Geistes werden.
Die Kirchen müssen sich für eine größere Weite öffnen
Diese Konzeption ist weitreichender als die Kirchen sie verkörpern. In Westeuropa spüren die Menschen, dass das Gerüst, das die Kirchen für die Entfaltung des Reiches Gottes darstellen, nicht mehr in die Zeit passt. Der Synodale Prozess versuchte, das Gestell umzubauen, so dass nicht mehr nur wenige Bischöfe das innere Leben bestimmen und den Frauen mehr Wirkungsmöglichkeiten eingeräumt werden. Aber wird das gelingen, ohne dass die Mitglieder, die hinter verschlossenen Türen die Ströme des Geistes neu lenken wollen, wenigstens versuchen, die bisherigen Vorstellungen, wer Gott ist und wie er handelt, hinter sich zu lassen. Die Theologieprofessoren wollen das Wissen über Gott sichern, indem sie die Schriften genau lesen und ihre Entstehungsgeschichte rekonstruieren. Sie nehmen aus diesem Studium nicht den Mut eines Hosea oder Jesaja, größer von Gott zu denken. Die nachhaltig gebliebenen theologischen Denker haben immer artikuliert und mit-gedacht: Gott ist größer als jede menschliche Vorstellung von ihm. Braucht die Katholische Kirche in Deutschland nicht wie Israel die Assyrer, die sie von dem institutionellen Ballast befreien, damit der Blick auf Gott neu freigelegt wird.
Der Orthodoxie droht eine existenzbedrohende Krise
Das Moskauer Patriarchat vereinigte einmal die Christen der gesamten Rus. Der Patriarch verliert mit seiner Positionierung an die 40 Millionen ukrainische Christen und wahrscheinlich auch die in Belarus. Wer einen Krieg unterstützt, der überhaupt nicht mehr in eine Zeit passt, die auf globalen Handel angelegt ist, verengt den Blick auf Gott so sehr, dass diese Kirche sich von der Zukunft abschneidet. Ob in der russisch-orthodoxen Kirche die Vorstellungen entstehen werden, die die jüdischen Propheten schon vor 2.500 Jahren entwickelt haben, ist eher unwahrscheinlich. Der Patriarch verengt den Blick der Gläubigen, anstatt ihn zu weiten.
Wenn immer noch dem russischen Präsidenten so viel Macht zugetraut wird, er folgt einer überholten Vorstellung, wie die Welt geordnet werden sollte. Er versucht im Zeitalter des Internets immer noch zu bestimmen, was die Untertanen denken dürfen. Diese informieren sich auch noch weitgehend aus den staatlichen Medine. Deshalb kann der Krieg weitergehen. Das kann sich aber binnen weniger Tage ändern.
Die Globalisierung braucht eine Philosophie
Die hier skizzierten Entwicklungen müssen am griechischen Modell des philosophischen Denkens durchgearbeitet werden. Die aktuelle Herausforderung hierfür ist die Abkehr vieler Berufs-Philosophen von der Metaphysik. Offensichtlich reicht eine Besinnung auf Platon, der die neue Vorstellung von Gott ins Gespräch gebracht hatte, nicht mehr aus.
An der Vorstellung eines allmächtigen und all-liebenden Gott rüttelt die Theodizeefrage, theos-Gott, dikae-Gerechtigkeit, Rechtfertigung. Sie öffnet den Blick auf das Handeln Gottes neu, weil sie nicht nur einen Feind, wie damals die Assyrer, in den Blick nimmt, sondern entsprechend der Überwindung des Nationalismus weltweit denkt und damit Gerechtigkeit für alle Völker und nicht nur für das Eigene sucht. Es ist damit ein weltweiter Blick der Religion möglich und notwendig. Das erfordert angesichts der vielen Kriege, der weltweiten Klimafrage, der Verletzung der Menschenrechte eine weltweite Kooperation der Religionen.
Jeder kann hier damit anfangen, denn in den Stadtregionen Europas sind alle Religionen bereits präsent.
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