Kathedrale von Amiens Foto: hinsehen.net

Die Erfahrung von Nähe

Wer das Spiel von Nähe und Distanz nicht beherrscht, verliert seine Identität, weil er sich gegen den Eindringling nicht abgrenzen kann. Wir drücken Nähe und Distanz räumlich aus. Wie müssten wir unsere Erfahrungen definieren, wenn wir diese geometrischen Deutungsmuster aufgeben?

Wenn wir beschreiben wollen, dass uns etwas sehr bewegt, dann sagen wir, dass uns etwas nahegeht. Wir machen uns räumliche Vorstellungen von der geringen Entfernung eines Objekts zu einer Instanz des Bewusstseins. Diese Nähe bewirkt dann beim wahrnehmenden Subjekt eine Art von Verschmelzungserlebnis. An dieses Bild von Nähe und Distanz haben wir uns gewöhnt und definieren Erfahrungen im Umgang mit anderen Menschen oder auch höheren Wesen als unterschiedliche Entfernungsdimensionen.

Die Psychogeografie legt nahe, dass Räume eine Wirkung auf den Menschen haben. Dabei ist es nicht die Nähe zu den Objekten, sondern die Gestaltung eben dieser. So fanden Forscher wie William Sullivan heraus, dass Stadtteile mit viel Grün signifikante Auswirkungen auf die Bewohner haben: Es geht dort weniger unhöflich und kriminell zu, die Bewohner reden mehr miteinander, kennen sich besser, sind sogar vor Krankheiten besser geschützt (s. bei Colin Ellard, Psychogeografie). Und schon die Gestaltpsychologen hatten herausgefunden, dass unserer Wahrnehmung genau bestimmbare Gesetzmäßigkeiten zugrunde liegen. Das Gesetz der Nähe zum Beispiel bedeutet, dass wir aufgrund der räumlichen Nähe zweier Objekte eine innere Beziehung annehmen. Doch nur weil zwei Menschen dicht beieinanderstehen, müssen sie innerlich nicht verbunden sein. Eine Pflegekraft beispielsweise, die mit den Patienten in einen engen körperlichen Kontakt kommt, definiert somit diese Situation als Nähe. Räumlich trifft dies natürlich zu und aufgrund des Gesetzes der Nähe wird dies auch so wahrgenommen. Aber es ist nur ein übliches Bild für etwas und eine Gesetzmäßigkeit der Wahrnehmung.

Die Raumwahrnehmung

Die räumliche Nähe zwischen zwei Menschen findet immer in einem Raum, einer Situation statt. In einem Aufzug nehmen wir nicht automatisch an, dass zwei beieinander stehende Menschen auch miteinander verbunden sind. Ebenso ist es in einem vollbesetzen Bus oder Zug. Damit wir im Sinne des Gesetzes der Nähe denken, machen wir eine wichtige Vorannahme, wir setzen die Freiwilligkeit voraus. Wir müssen also in der Lage sein, die Anordnung von Personen in einem Raum bezogen auf Zwang oder Freiwilligkeit richtig einzuschätzen. Dazu wiederum ist die richtige Deutung darüber notwendig, welche Funktionen der Raum hat. Ferner müssen wir wahrnehmen können, welche Wirkung der Raum ausübt. Es gibt Räume, die zentrieren wie in einem Konzertsaal die Aufmerksamkeit auf einen Punkt im Raum, nämlich die Bühne. Hierzu steht die Nähe der Zuhörer in Beziehung. Ist der Zuhörer von der Musik des Künstlers ergriffen, so empfindet er Nähe zu diesem Künstler und eben nicht zum Sitznachbar, der ihm räumlich viel näher ist. Sitze ich in einem Konzert neben einem mir nahem Menschen, so empfinde ich über die Anrührung und die Nähe zum Künstler eine noch größere Nähe zum Menschen neben mir. Allerdings kann dieses Gefühl auch dann vorhanden sein, wenn der mir nahestehende Mensch gar nicht im Raum ist. Nähe verstanden als räumliche Nähe scheint daher das Phänomen, um das es eigentlich geht, mehr zu verschleiern als zu erklären.

Atmosphärische Festlegungen

Das gemeinte Phänomen, das allgemein als Nähe-Distanz-Problem bezeichnet wird, lenkt mit dieser Bezeichnung von dem ab, was der Einzelne tatsächlich empfindet. Eine räumliche Nähe oder Distanz fasst das Problem nicht. Die Beziehung zu einem anderen Menschen mit Qualitätskriterien definieren zu wollen, wäre ebenso nicht zielführend, denn es würde dann nicht mehr nach dem Was, sondern nach dem Wie gefragt. Schon bei der Formulierung Nähe-Distanz-Problem schwingt eine Wertung mit: Nähe ist besser als Distanz. Eine andere Möglichkeit, dieses Phänomen genauer zu fassen, wäre es, die Atmosphären im Raum zu beschreiben und gleichzeitig die korrespondierenden Vorgänge im Subjekt zu analysieren. Die Schwierigkeit im Umgang mit Nähe und Distanz wäre dann keine Frage der Abgrenzung, sondern eine der Fähigkeit der atmosphärischen Wahrnehmung und der Entwicklung einer Struktur im eigenen Erleben und Bewerten. Es wäre möglich, einem anderen Menschen sehr viel Nähe zu geben. Diese Nähe wäre durch die Gestaltung der Atmosphäre wie auch der inneren Struktur so gestaltet, dass sie vom Gegenüber ohne Erwartungen erwidert wird. Nur aus einer räumlichen Nähe könnte kein Anspruch abgeleitet werden. Die Frage würde sich demnach verändern, es wäre nicht mehr die Fähigkeit zur Abgrenzung entscheidend, um das Verhältnis von Nähe und Distanz ins richtige Gleichgewicht zu bringen. Vielmehr müsste die Gestaltung der Situation, des Raumes sowie die Verarbeitung atmosphärischer Bedingungen im Subjekt angegangen werden.



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