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Die Absurdität im Kampf der 68er

Bis heute bestimmen sie noch, was falsch und was richtig ist. Ihr moralisches Überlegenheitsgefühl beziehen die Achtundsechziger aus der Ablehnung der Kriegsgeneration. Da sie rückwärtsgerichtet waren, ist ihr Erbe schwach. Thomas Holtbernd zeigt die Ambivalenzen auf, in die die 68er die nachfolgenden Generationen geführt haben.

Die Beschreibung und Analyse einer Epoche wie die Zeit des Umbruchs im 20. Jahrhundert gerät immer in die Gefahr einer Idealisierung oder Dämonisierung. Diese Dynamik macht es schwer, die Vorannahmen bei der Analyse zu erkennen. Eine Täuschung besteht schon in der Benennung einer Zeitepoche. Indem von den 68ern gesprochen wird, gerät aus dem Blickwinkel, dass Geschichte das Ergebnis von Entwicklungen ist. Gerade die 68er haben einen relativ kurzen Zeitraum der europäischen Geschichte für sich okkupiert. Der geschärfte Blick in diese Zeit macht deutlich, dass diese Bewegung nur von sehr wenigen Beteiligten getragen wurde. Im Nachhinein ergibt sich durch die Erzählungen derjenigen, die in dieser Zeit ihre junges Erwachsensein erlebt haben, dass große Teile der Bevölkerung aktiv mitgemacht hätten. Von daher verweist Armin Nassehi darauf, dass 68 als Chimäre zu verstehen ist. Der Versuch, ein solches Verhalten zu verstehen, führt dazu, den geschichtlichen Bogen und die psychologische Bedeutung einer solchen psychodynamischen Reaktion einbeziehen zu müssen.

„Nicht befleckt sein“

Insbesondere in Deutschland mussten die Kinder einer Generation, die wie auch immer definiert unsägliche Schuld auf sich geladen hatte und die Humanität in ihrem Kern erschüttert hatten, um ihr ethisches Überleben kämpfen. Sich als Kind eines Menschen ertragen zu können, der Menschen vergast und umgebracht hatte, lässt keine andere Möglichkeit zu, als sich ahistorisch zu verstehen. Es darf keinen roten Faden von dieser Elterngeneration zum eigenen Empfinden geben, sonst wäre der Anteil dieser Gräuel im eigenen Innern zu groß. Der Wunsch und der nachträgliche Glaube, bei diesem Befreiungskampf mitgemacht zu haben, resultiert aus dem mehr oder weniger bewusst erkannte Bemühen, sich zu reinigen von dem, was durch die Eltern in die eigene Seele eingedrungen oder vererbt wurde. Eine solche Psychodynamik muss totalitär sein. Die 68er haben insofern ein klares Wertesystem entwickelt, das durch das diametral Entgegengesetzte zur vorherigen Generation das Gefühl stärken konnte, nicht befleckt zu sein.

Die NS-Zeit hatte eine lange Vorgeschichte

In einer solchen Atmosphäre ist es schwer zu erkennen, dass Widerstandskämpfer im Dritten Reich möglicherweise mit den eigenen Wertüberzeugungen ganz und gar nicht kompatibel sind. Es sind auch die geschichtlichen Bezüge, die vor 1933 anzusetzen sind, vernebelt. Kurt Flasch zum Beispiel hat erst 1999 in „Die geistige Mobilmachung“ aufgezeigt, wie tief Antisemitismus und Nationalismus bei den deutschen Intellektuellen vor dem Ersten Weltkrieg verankert waren.

Die Nach-Achtundsechziger im Bann des Politischen

Die den 68ern folgende Generation war zu großen Teilen sicherlich fasziniert von dem politischen Aufbruch, aber gleichzeitig waren sie nicht mehr so versessen darauf, sich von der Elterngeneration unterscheiden zu müssen, denn ihre Eltern waren diejenigen, die entweder zu den sogenannten weißen Jahrgängen gehörten oder nur noch peripher Kriegserfahrungen gemacht hatten. Sie mussten jedoch auch erfahren, dass sie im Sinne von Reinhard Mohr Zaungäste waren. Sie gehörten weder zu den „Revolutionären“ noch zu der in den 80ern aufgewachsenen Machern, die an ihnen vorbeizogen und nach dem Studium nicht als Taxifahrer arbeiten mussten. Aufgrund dieses Ausgegrenztseins waren sie möglicherweise besonders empfindlich für die Ambivalenzen der 68er. Die Sprache des Verstandes hatten die 68er sehr gut bedient, sie konnten formulieren, es wurden Pamphlete, Konzepte und Resolutionen geschrieben, die sicherlich ein hohes intellektuelles Niveau hatten. Hinter dieser Sprache verbarg sich jedoch auch die Angst, das theoretisch Geforderte auch tatsächlich zu leben und in der vorgestellten Weise zu fühlen. Es ist sicherlich von daher auch zu verstehen, dass Drogen aufkamen, die das Bewusstsein erweitern sollten, aber in Wirklichkeit dazu dienten, Hemmungen aufzuheben und die geforderte Freiheit zu leben. Die 68er mussten rigoros und rigide werden, damit man ihnen nicht hinter die Schliche kommen konnte. Sie waren auch nicht gezwungen, Absurditäten der gesellschaftlichen Macht auszuhalten. So waren die folgenden Generationen gezwungen, wenn sie den Kriegsdienst verweigerten, vor einem Gremium von Leuten ihr Gewissen zu verteidigen, die noch zur Kriegsgeneration gehörten. Wer ehrlich bei einer solchen Verhandlung war, wusste, dass er nicht gewinnen konnte. Es wurde bei entsprechenden „Vorbereitern“ gelernt, was man sinnvollerweise sagen solle. Wer aus religiösen Gründen verweigerte und in einer kirchlichen Gruppe aktiv war, hatte die besten Chancen.

Die Legitimation von Gewalt

Während die 68er verfangen waren in ihren Abgrenzungsbemühungen zur Elterngeneration, musste sich die nachfolgende Generation den absurden Ambivalenzen stellen. Eine Konsequenz der politischen Bemühungen war die bittere „Erkenntnis“, dass alles Bemühen keine Erfolge zeitigt und Gewalt zur Veränderung der Gesellschaft als durchaus denkbar vorstellbar wurde. Die RAF muss möglicherweise als Wiederholung der Geschichte verstanden werden. Der „totale Krieg“ wurde als radikale Auslöschung der Personen transponiert, die vermeintlich das gesellschaftliche Geschehen bestimmen. Die 68er verharrten in ihren intellektuellen Positionen, kamen aber mit ihren Gefühlen nicht nach und idealisierten später „ihre“ Zeit als eine Zeit des Kampfes. Sie konnten nicht zulassen, dass ihre eigene Position kritisch hinterfragt wurde, denn sie waren ja die Provokateure, die der Elterngeneration gehörig ins Gewissen geredet hatten. Sie stilisierten ihre Helden, die aus heutiger Sicht keineswegs Heilige sind. Che Guevara, Fidel Castro und andere waren sicherlich charismatische Kämpfer, Rudi Dutschke und andere konnten begeistern, doch waren sie alle sehr einseitig.

Die Achtundsechziger waren rückwärtsgewandt und daher ohne Erbe

Die 68er bestimmten den Diskurs und neben ihnen gab es keine anderen Götter. Die folgenden Generationen hatten es wesentlich schwerer, sie konnten nicht gegen eine Elterngeneration opponieren. Ihre Kritik an bestehende Verhältnisse war leiser und sie profitierten davon, dass inzwischen durch Erich Fromm, Günter Ammon und andere Psychoanalytiker Politik in ihrer psychologischen Dimension verstanden werden konnte. In Gruppen wurde nun gelernt, wie Politik und Gesellschaft funktionieren. Ein Guru wie Bhagwan machte klar, dass Religionskritik nicht mehr als Kirchenkritik zu verstehen ist und dass eine spirituelle Erweckung notwendig ist, die eine frei gelebte Sexualität voraussetzt, die jedoch als erlebte Erfahrung verstanden wurde und nicht mehr nur als Befreiung im Sinne eines Kampfes gegen Konventionen. Das Ergebnis solcher Erkenntnisse mündet im Zynismus, den die 68er ablehnen müssen, da sie Werte und moralische Konzepte verteidigten, um sich gegen die Elterngeneration als moralisch integer zu verstehen. Die deutsche Philosophie oder die intellektuelle Szene wurde jedoch in den 80er Jahren von einem solchen Zynismus bestimmt. Peter Sloterdijk schrieb nach seiner „Lehre“ bei Bhagwan „Die Kritik der zynischen Vernunft“ und leitete damit eine Wende der verstaubten Katheder ein. Mit einer Person wie Sloterdijk waren die 68er abgelöst. Und es zeigte sich, dass die 68er kein Erbe weitergeben konnten. Sie waren nicht nach vorne in die Zukunft gerichtet.

Die Zeit nach dem II. Vatikanischen Konzil

In kirchlichen Kreisen schien das Zweite Vatikanische Konzil einen ähnlichen Aufbruch zu zeigen. Doch gab es keinen emotionalen Aufstand. Eine Figur wie Bhagwan gab es in kirchlichen Kreisen nicht. Frère Roger in Taizé stand für einen spirituellen und ökumenischen Aufbruch. Eine sexuelle Revolution gab es in der Kirche jedoch nicht. Auch eine an der Psychodynamik orientierte Pastoral war schwach ausgebildet. Der Aufbruch durch das Konzil war gleichzeitig eine Missachtung der psychischen Dimensionen des religiösen Alltagslebens, was sich später vor allem in der Kritik an der Liturgiereform zeigte, die von einem Psychoanalytiker wie Alfred Lorenzer angeführt wurde. Bis heute ist nicht erkennbar, dass die psychische Dimension einer Befreiung mitbedacht wird. Es scheint vielmehr so zu sein, dass die Generation, die den 68ern folgte, in der Kirche mit ihrem Erleben des Widerspruchs alleingelassen wurde und sogar eine gewisse Verachtung und Demütigung erfuhr. Die 68er in kirchlichen Kreisen waren viel zu sehr mit ihren Wünschen nach Veränderung beschäftigt und konnten nicht erkennen, dass die emotionale Loslösung von üblichen Sexualvorstellungen oder die Befreiung hin zu spiritueller Offenheit über Erfahrung geschieht, die es zu begleiten gilt, um Gefahren einzugrenzen. Stattdessen wurden Priester, die neue Formen wagten, versetzt. Damit aber wurden auch die jungen Menschen gedemütigt, weil ihnen hierdurch signalisiert wurde, dass ihre Erfahrungen nicht „richtig“ seien. Es ist daher nur wenig verwunderlich, dass diese Generation aus dem kirchlichen Leben mehr und mehr verschwand. Da die kirchlichen 68er ihre Kämpfe weiterführten, die Pillenenzyklika zu einem Streitobjekt gemacht wurde, fiel gar nicht auf, wie sich der kritische Teil einer Generation absentierte. Und weil dieser Teil einer Generation sich schließlich von der Kirche entfremdet hatte, fanden auch ihre Kinder kaum noch einen Zugang zu dieser inzwischen von alten Menschen gekennzeichneten Gemeinschaft. 

Link: Achtundsechzig - Weichen falsch gestellt


Kategorie: hinsehen.net Analysiert

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