Bild: Odi Netivi

Der Tod als Freund

Der Tod legt seine Hand um die Taille eines Mädchens.

Der Künstler zeigt den Tod als Freund, ja fast als Geliebten, an den sich das Mädchen anlehnt. Sein linker Arm umgreift sie zärtlich. Wer hätte das vom Tod gedacht.

Der Tod und das Mädchen ist seit 1500 ein Motiv der bildendne Kunst In der Epoche der Empfindsamkeit im 18. Jahrhundert wird das Motiv von der Literatur aufgegriffen.

Ein Aufschrei. Eine Beschwichtigung. Ein Gespräch zwischen Jung und Alt. Wortwechsel eines ungleichen Paares. Es geht um Leben und Tod. Mehr noch: eine junge Frau spricht mit dem Tod, dem altbekannten Knochenmann, persönlich. Sie will, dass er fortgeht, sie nicht belästigt. Sie will von ihm nichts wissen. Er antwortet besänftigend, nicht drohend. Fast zärtlich fordert er sie auf, mit ihm mitzugehen. Das alles scheint klar zu sein. Wirklich? Da bleiben Fragen offen, etliche. Wo findet das Gespräch statt? Und wann, zu welcher Tageszeit, in welcher der vier Jahreszeiten? Ist es Realität oder ein Traum? Das Mädchen sieht im Tod den Feind, der sie, der ihr Leben bedroht, aber warum sagt es zu ihm dann „Lieber“? Klingt da nicht die alte Redewendung vom Tod als „Freund Hein“ an? Und wie alt ist das Mädchen überhaupt? Oder spielt das keine Rolle? Der Tod bittet um die Hand des Mädchens, der jungen Frau. Ist er ein Liebhaber, der zum Rendevous einlädt? Bezeichnet er sich selbst doch als Freund, vor dem man keine Angst haben muss. Im Gegenteil, in seinen Armen könne man sanft schlafen. Doch das Mädchen macht sehr deutlich klar: „Und rühre mich nicht an.“ Das ist der zentrale Satz des Gedichtes. Es sind, bei näherem Hinsehen, die hier anklingenden Worte des auferstandenen Jesus in der lateinischen Übersetzung des Johannesevangeliums an Maria Magdalena, die ihn umarmen will: „Noli me tangere“, rühr mich nicht an (Joh 20,17). In der Einheitsübersetzung des Neuen Testamentes aber heißt es: „Halte mich nicht fest“ und Jesus fügt als Begründung hinzu, dass er seinen Auftrag, zum Vater zu gehen und den Menschen Beistand zu schicken, noch nicht erfüllt habe. „Halte mich nicht fest“, sagt in übertragener Bedeutung der Gedichtzeile „Und rühr mich nicht an“ auch das Mädchen: Es hat sein Ziel, ihr Leben nach ihrer Vorstellung, ihrem Willen zu Ende zu leben, noch nicht erfüllt. Der Tod soll seine bereits begonnene Handlung, es mit sich fortzuführen, aufhören. Macht er das? Oder geht das Mädchen mit? Im Gedicht bleibt die Antwort des Mädchens offen, es antwortet dem Tod nicht. Die Vertonung dieses Gedichtes durch Franz Schubert und das Bild von Oded Netivi legen das Mitgehen des Mädchens aber nahe. Und Sie?

Bild: Odi Netivi


Kategorie: Entdecken

Kommentare (0)

Keine Kommentare gefunden!

Neuen Kommentar schreiben

Zum Seitenanfang