Prämonstratenserstift Jrichow Brandenburg, Foto: hinsehen.net E.B.

Der Raum und das Absolute

Nach dem Ende des Lockdown haben wir die Chance, Straßen wie auch Gebäude mit ihr Raumatmosphäre neu zu entdecken. Thomas Holtbernd macht uns darauf aufmerksam, wie das gelingen kann. Offensichtlich brauchen Kirchen eine neue Aufmerksamkeit, um sie als heilige Ort wieder zu entdecken

Es ist ein verführerischer Gedanke, dass es einen Raum gäbe, der aus sich heraus eine solche Wirkung hätte, dass alle, die diesen Raum betreten, von einer heiligen Ehrfurcht ergriffen sind. Sicherlich sind manche Räume von einer besonderen Dichte, scheinen ein „heiliger Ort“ zu sein. Über Jahrhunderte und Kulturen hinweg scheinen manche Plätze, Orte und Bauwerke von einer besonderen Anziehungskraft zu sein. Doch ist es letztendlich nicht möglich, die Aspekte oder Merkmale solcher Örtlichkeiten genauer zu beschreiben. Die Umwidmung von Kirchen oder auch die Rückumwandlung der Hagia Sophia in Istanbul verweisen auf einen Umstand, der die Atmosphäre eines Raums vielleicht maßgeblich mitbestimmt: Ein Raum wird durch seine Benennung und Widmung mit Macht aufgeladen. Diese Macht ergibt sich aus der Tradition, den assoziierten Bildern, der in diesem Raum fokussierten kulturellen Aufladung und der von der Gemeinschaft, die diesen Raum als ihren definiert, initiierten und geprägten Dynamiken.

Raume gewinnen durch Zuschreibung

Dass ein von vielen definierter und empfundener heiliger Ort mehr eine Zuschreibung als eine real vorhandene Erfahrungsnotwendigkeit ist, zeigt sich, wenn man zum Beispiel den Kölner Dom betritt. Eine Ehrfurcht lässt sich bei vielen Besuchern nicht feststellen, dieser Raum wird besucht, weil er eine Touristenattraktion ist, weil ein berühmter Künstler dort ein Fenster gestaltet hat oder weil man eine Pause machen will, bevor man zum Bahnhof eilt. Manche stört diese „Respektlosigkeit“, sie fühlen sich in ihrer Einkehr gestört oder meinen sogar, dass dieser „heilige Ort“ entweiht wird. Umgekehrt wird bei der Profanierung und Umwidmung von Kirchengebäuden deutlich, wie eng Menschen mit einem solchen Gebäude verbunden sind und ihren „Glauben“ verlieren, weil dieses Gebäude abgerissen oder zur Kneipe umgebaut wird. Der Raum oder ein Raum scheint auf der einen Seite eine relativ eindeutige Atmosphäre zu erzeugen und auf der anderen Seite wird diese Atmosphäre von Erfahrungen und Zuschreibungen bestimmt, ist also nicht aus sich heraus eindeutig.

Raumatmosphären

Versuche, einen Raum und seine Atmosphäre beschreiben zu wollen, tragen vielen Aspekte zusammen, was Wirkungen auf die Menschen hat. Es wird jedoch immer ein Rest bleiben, der manchmal einfach nur in der Erkenntnis besteht, dass alle Aspekte zusammen diese spezielle Atmosphäre bewirken. Es bleibt ein Rest, der nicht erklärbar ist. Und auch wenn Fachleute zusammentragen, was durch Farbe und Formen sowie deren Zusammenspiel bei Menschen bewirkt werden kann, bedeutet dies nicht, dass alle so empfinden werden. Allein die eigene Stimmung, mit der man einen Raum betritt, hat Auswirkungen auf die Wahrnehmung einer Atmosphäre. So wird ein dunkler Raum von Menschen, die eher traurig oder depressiv gestimmt sind, anders empfunden werden als von Menschen, die gerade fröhlich und unbeschwert sind. Auch werden die Kunsterfahrung und das Wissen um gewisse Zusammenhänge die Erfahrung beeinflussen. Manchmal erlebt man Menschen in Kirchen, Museen oder Gebäuden, die völlig entzückt scheinen von dem was sie da sehen. Diese Begeisterung wirkt völlig unverständlich. Wenn man nach Jahren diese Sehenswürdigkeit erneut besucht oder einfach nur etwas dazu gelesen hat, fällt es wie Schuppen von den Augen und man verfällt selber in diese Entzückung. Mit diesem Wissen ist man in der Lage, diesem Raum etwas zuzuschreiben, was dann wiederum zurückwirkt und hieraus ergibt sich eine Atmosphäre. Die Elemente, die eine Raumerfahrung bewirken, müssen erkannt werden, man muss von ihnen wissen und sich psychologisch auch darauf einlassen können. Der Raum gibt durch seine Struktur, die einzelnen Details etwas vor, sie müssen wahrgenommen, erkannt und eingeordnet werden können. Und umgekehrt muss der Betrachter dem Raum etwas zuschreiben können, was er als kulturelles Wissen und Rezeptionsfähigkeit erlernt hat. Drittens ist das Besondere der empfundenen Raumatmosphäre die Offenheit für etwas, was noch nicht erkannt oder erfahren wurde. Daher sind „eindeutige“ Räume kaum mit einer Atmosphäre gefüllt. Es muss etwas neu zu entdecken sein, eine Ungewissheit muss im Raum liegen. Rein funktional angelegte Räume wirken daher steril und lähmend, weil sie die Empfindungen nicht anregen und keine unterschiedlichen Deutungen zulassen.

Der Zugang

Nimmt man an, dass Raumatmosphären nicht allein durch den eigentlichen Raum bedingt sind, sondern zu einem nicht unbeträchtlichen Teil von denen bestimmt sind, die diesen Raum betreten, so muss nach den Prägungen einer Gesellschaft, Zeitepoche und Kultur gefragt werden. Kennzeichnend für das 21. Jahrhundert dürfte die Unmittelbarkeit sein, mit der Wirklichkeiten herangezogen werden können. Das Fernsehen hat es möglich gemacht, dass die Teilnahme an einem Ereignis nicht mehr durch die gleichzeitige Anwesenheit an einem Ort gebunden ist. Das Internet macht diese Teilnahme unabhängig von einer Sendezeit. Zu jeder Zeit und an jedem Ort können ein Konzert, ein Ereignis, Wissen und Informationen auf dem Smartphone angeschaut werden. Der Raum, in dem ich mich gerade befinde, verliert damit an Bedeutung. Bei Konzerten erlebt man manchmal Menschen, die anderen auf ihrem Smartphone vorspielen, was dieser Künstler bei einem anderen Konzert gespielt hat oder auf welchem Konzert man neulich war. Die Raumwahrnehmung verschwimmt, der virtuelle und der reale Ort werden miteinander in Beziehung gebracht und es ist nicht mehr klar, was die empfundene Atmosphäre ausmacht.

Die Wahrnehmung von Kirchengebäuden

Die Corona-Krise hat deutlich gemacht, dass sowohl die Kirchengebäude an Wichtigkeit verloren haben und es den Verantwortlichen nicht gelungen ist, ein sinnhaftes Signal zu setzen. Um die Kirchen war und ist es bemerkenswert ruhig geworden. Die Liturgie, die den Kirchenraum mit Atmosphäre füllt, war über viele Wochen nicht mehr Teil des Kirchenlebens und erscheint inzwischen lahm, gebremst, in jedem Fall so leblos, dass eine Wiederbelebung notwendig erscheint. Eine neue Erfahrung ist dies keineswegs, Alfred Lorenzer und Martin Mosebach hatten nach der Liturgiereform bereits eindrücklich darauf hingewiesen, dass das Bildhafte aufgegeben wurde. Die Liturgie hatte das Geheimnisvolle und „Rauschhafte“ verloren. Das Wort war zu sehr in den Vordergrund gerückt worden. Der Raum „Kirche“ ist damit jedoch auch nicht mehr der Ort, an dem etwas Geheimnisvolles geschieht. Die Zuweisungen an diesen Raum sind nüchtern und die erlebte Atmosphäre damit auch eher belanglos. Versuche, Kirchenräume attraktiv zu machen, sind oft nicht immanent, sondern stülpen diesem Raum etwas über, was aus einem anderen Zusammenhang stammt. Die Lichtinstallationen beispielsweise, die bei der Gamescom im Kölner Dom durchgeführt wurden, sind im Grunde genommen eine Bankrotterklärung. Statt die vom Raum her mögliche Atmosphäre wird die Lichtinstallation als Attraktion genommen. Die Einübung einer atmosphärischen Wahrnehmung wird durch das Event Lichtinstallation verhindert.

Einüben in das Raumerleben

Vielleicht gibt es Aspekte im Raum, die eine bestimmte Atmosphäre zur Folge haben. Die Tiefe eines Raumes und seiner Atmosphäre erleben zu können, ist jedoch wohl auch immer eine Einübung. Die Beschäftigung mit der Frage, was Schönheit ist, wie Farben und Formen auf den Menschen, wie Größenverhältnisse auf die Wahrnehmung wirken, wie sich psychische Blockaden auf das Erleben auswirken, dass genaue Beobachtung auch Anstrengung ist, dass Kenntnisse aus der Kunstgeschichte, Architektur, Theologie und Philosophie erworben werden müssen, um eine Atmosphäre empfinden zu können, sind notwendige Voraussetzungen einer angemessenen Raumwahrnehmung. Eine solche Einübung ist immer auch mit einer Konfrontation verbunden. Ein Mensch, der sich mit seiner ganzen Person auf einen Raum und seine Atmosphäre einlässt, geht das Risiko ein, dass ihn diese Erfahrung auch verändert. Kirchenräume scheinen hierfür nicht mehr die Atmosphären zu bieten, mit denen der Mensch im 21. Jahrhundert etwas anfangen kann. Es sind andere Orte, die offensichtlich den Nerv besser treffen. Der Jakobsweg zum Beispiel ist zwar religiös begründet, doch wacht dort niemand, ob auch alles „richtig“ gemacht wird. Der Pilger definiert seine Motivation unabhängig und kann den Erfahrungen eigene und beliebige Deutungen geben. Bevormundung wird abgelehnt. Es könnte sein, dass genau dieses Anliegen zur Abkehr von gewohnten traditionellen Kirchenerfahrungen und dem Wunsch, andere „heilige“ Orte aufzusuchen, führt. Atmosphären, die zu sehr als aufgezwungen wirken, werden abgelehnt. Die Lösung liegt allerdings nicht darin, kirchliche Räume von diesen Zeichen zu befreien. Der Fokus sollte auf das Ganze gelegt werden. Wer in der Lage ist, einen Kirchenraum in seiner Atmosphäre zunächst einmal wahrzunehmen, wird entdecken, was ihn stört, was das unbedingte Einlassen auf diese Atmosphäre behindert oder behindern könnte. Eine Kleinigkeit kann für den einen nebensächlich sein, für den anderen ist es jedoch der Stolperstein, der verhindert, dass er sich weiter einlässt. Statt die leeren Kirchen zu beklagen, wäre es hilfreicher, die Kirchengebäude wieder mit Atmosphären zu füllen. Und das kann gelingen, indem das kirchliche Leben und der Gottesdienstbesuch als Üben und Einüben verstanden wird, um die Atmosphären, die durch den Raum vorgegeben sind, in ihrer Schönheit und ambivalenten Vielfalt lebendig werden zu lassen.


Kategorie: Gesehen

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