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Denkend Boden unter die Füße bekommen

Krisenzeiten setzen das Denken neu in Gang. Um Entscheidungen auf eine tragfähige Basis zu stellen, muss die Orientierung an der Wahrheit belastbar sein. Welche Zugänge zur Wahrheit kann die Philosophie erschließen:

Rocco Buttiglione, Politiker und Philosoph, plädiert für Vertrauen auf die Freiheit, die sich an Werten orientiert. Denn die Naturwissenschaften können nur gesetzmäßig ablaufende Entwicklungen bestimmen. Sie wissen wir, welche Kräfte den Sternenhimmel steuern, wie das Biologische sich von der Zelle her gestaltet, wie die menschliche Geschichte verlaufen ist. Und stehen zugleich vor einen unsicheren Zukunft, die mit naturwissenschaftlichen Methoden nicht in den Griff zu bekommen ist.

Entscheidungen sind notwendig risikobehaftet

Zwar setzt die Mehrheit der Philosophen heute auf die Naturerkenntnis. Naturalismus nennt sich diese Denkrichtung, die nur den sicheren Erkenntnissen der Naturwissenschaften traut. Sie führen den Ansatz von René Descartes weiter, der nach dem Zerfall des Mittelalters  neue Sicherheiten für das Erkennen suchte. Damit deckt er nur einen Teil des menschlichen Handlungsraumes ab. Die konsequente Fortführung dieses Ansatzes führt nämlich zu einer Ethik, welche die volle Berechenbarkeit des menschlichen Handelns hervorbringt. Spinoza hat sie formuliert. Rocco Buttiglione folgt in seinem Buch „Die Wahrheit im Menschen“ diesem Ansatz nicht, sondern Pascal, der das Leben als Wette beschreibt, wenn es nämlich um das Entscheiden und damit um den Handlungsraum der Freiheit geht. Wette, weil der Mensch für seine Entscheidungen nie alle Informationen erhält, zumal aus zukünftigen Gegebenheiten, die ihm die Umsetzung seiner Planungen garantieren könnten.

Vertrauen in die Sinnhaftigkeit der Welt

Wette im weiteren Sinn, weil das Risiko nur erträglich bleibt, wenn die Welt nicht gegen den Menschen gerichtet ist. Ob aber das Ganze der Wirklichkeit „es gut mit dem Menschen meint“, kann der einzelne nicht aus den Zeitläufen ablesen. Er ist mit Misslingen konfrontiert und stößt auf viele Hindernisse und auch Bösartigkeit. Der Autor schließt sich aber nicht den Skeptikern an, die jedwede Sinnhaftigkeit in Abrede stellen, sondern geht von den Sinnerfahrungen aus, die nahelegen, dass die Sinnlosigkeit menschlicher Mühen nicht das letzte Wort hat, sondern die Existenz auf Sinnerfüllung angelegt ist. Diese Grundstruktur ist im Menschen angelegt.

Die Wahrheit dringt auf Absolutheit

Auch wenn der Mensch nur Teile der Wahrheit erkennen und in sein Weltbild einfügen kann, tendiert sein Erkenntnisstreben auf die ganze Wahrheit. Wahrheitsstreben mit den begrenzten Möglichkeiten der menschlichen Erkenntnisfähigkeit tendiert auf die Wahrheit insgesamt. Diese wird in der Tradition „absolute Wahrheit“ bezeichnet und ist Gott vorbehalten.
Ähnlich ist die Anerkennung von Werten, so des unabdingbaren Wertes der anderen Person, im Menschen angelegt. Diese Werte schreibt der einzelne nicht nur aus innerem Antrieb Handlungen und Menschen zu, sondern jeder kann diese Werte auch erfahren. Die Werte existieren nicht nur im Kopf des einzelnen, sondern sind im anderen, in der Natur, in der Schönheit der Welt zu entdecken. Da jedoch auch andere Widerfahrnisse  Werte und die wahrheitsgeleitete Erkenntnis infrage stellen, braucht es die Entscheidung des einzelnen, ob er einen wertorientierte Lebensentwurf wählt oder den Skeptizismus, der darauf hinausläuft, dass das Gesamt der Wirklichkeit das Misslingen der menschlichen Existenz will. Es bleibt also beim Charakter der Wette. Für diese gibt es die besseren Gründe. Buttiglione findet eine Perspektive, die die Positionen von Pascal, Vico u.a. weiterführt, die die Begrenztheit des Menschen nicht überspielt und diese in einen größeren Sinnzusammenhang einbettet.
Seine Reflexionen über den Zusammenhang von Wahrheit und Freiheit zeigen, dass die Wahrheit, die dem einzelnen zugänglich ist, nicht nur angeschaut, sondern aufgenommen und bejaht werden muss, damit sich im Einzelnen ein tragfähiges Weltbild entwickelt. Hier liegen entscheidende Ansatzunkte, Philosophie schon in der Schule und in Studiengängen zu verankern, denn junge Menschen müssen sich ihr eigenes Weltbild bauen.

Die digitale Totalüberwachung

Würde der Autor auch die Fragen aufgreifen, die die aktuelle Entwicklung dem einzelnen wie den gesellschaftlichen Institutionen stellen, würde sein Ansatz sehr viel höhere Relevanz gewinnen. So bleibt es ein Gespräch mit der Philosophiegeschichte, das eher fachintern geführt wird. Die Schwierigkeit junger Menschen, in der Vielfalt der Möglichkeiten Pfade der Orientierung zu finden, erfordern eigentlich Antworten durch die Philosophie. Eine  Entwicklung betrifft die Überlegungen Buttigliones zentral, wird aber nicht aufgegriffen, nämlich die digitale Totalüberwachung:

So abwägend und argumentierend die Überlegungen vorgestellt werden, der Autor bleibt nur im Gespräch mit den Protagonisten der europäischen Geistesgeschichte, ob Platon, Aristoteles, Thomas von Aquin, Hume, Kant, Vico, Nietzsche, Freud, Croce, Sartre. Sein Plädoyer für die Unberechenbarkeit der Freiheit und damit für einen anderen Zugangs zur Wirklichkeit, den die Geisteswissenschaften suchen, geht nicht auf die Tatsache ein, dass wir in einer völligen Überwachung durch die digitalen Provider angekommen sind. Das, was der Autor beschreibt, die vom Rationalismus projektierte totale Erfassung nicht nur der Naturvorgänge, sondern auch des menschlichen Handelns, ist ja längst Wirklichkeit. Nicht nur das Konsumverhalten, sondern bereits das Wohlerhalten wird durch Algorithmen gesteuert. Die Künstliche Intelligenz wird den einzelnen erst einmal von Maschinen abhängig machen, so wie manche bereits dem Navi mehr vertrauen als dem eignen Blick auf eine Straßenkarte. Das stellt die Frage an die implizierte Anthropologie, an der sich der Autor orientiert.

Freud hinter sich lassen

Um sich den neuen kulturellen Phänomen philosophisch zu nähern, genügt die Anthropologie des Autors nicht. Er setzt voraus, dass sich die Vernunftorientierung mühsam gegen die Triebstruktur durchsetzen muss. Er übernimmt damit faktisch das Menschenbild von Freud und folgt ihm auch darin, dass Kultur nur durch Disziplin und damit Unterdrückung der Triebe möglich ist. Nun ist aber die digital bestimmte Welt keine Entfaltung menschlicher Triebe, sondern eine Kopfgeburt, die in ihren Anfängen die Teilhabe eines jeden am gesellschaftlichen Diskurs ermöglichen wollte und auch tatsächlich sehr viel mehr Artikulationsmöglichkeiten als die Leserbriefspalte in der traditionellen Zeitung einräumt.
Warum diese Kultur die Überwachsungssysteme autoritärer Staaten weit in den Schatten stellt und die Algorithmen zur Lenkung der Konsumbedürfnisse so erfolgreich sind, sollte die Philosophie herausfordern. Wenn man davon ausgeht, das die Freud‘sche Konstruktion den Menschen vor und nach dem Ersten Weltkrieg im Blick hat, hat sich die condition humaine inzwischen doch entscheidend verändert.

Das Buch insgesamt bleibt trotz dieser fehlenden Perspektiven außerordentlich lesenswert. Die besonnene Umgang mit den Fragen motiviert, das eigene Weltbild näher anzuschauen, welche Optionen man selbst gewählt hat und ob die eigne Weitsicht nicht zu vereinfacht gebaut ist und damit Gefahr läuft, in Vorurteilen stecken zu bleiben. Den tastenden Denkstil des Autors und der Verzicht auf Polemik kann man dann problemlos übernehmen. Die flüssige Sprache und die  Zwischenüberschriften, die tatsächlich jeweils einen Hinweis auf die folgenden Zeilen geben, erleichtern die Lektüre wie auch das Nachschlagen, ebenso die Register.


Kategorie: Gelesen

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