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Covid-19 lässt die Architektur deutlicher hervortreten

Wir sind wieder in den Straßen unterwegs. Die Masken machen uns darauf aufmerksam, dass etwa anderes ist. Wir müssen uns anders verhalten. Thomas Holtbernd spürt der Wechselwirkung von Winzig und Groß nach

Es mag irritierend erscheinen, ein Virus und Architektur miteinander in Beziehung zu setzen. Das Virus kann man nur unter einem Mikroskop sehen, und um Architektur erkennen zu können, muss man sich von dem Objekt weiter entfernen oder in die Luft steigen. Beides, Virus und Architektur, lässt sich ohne Veränderung der Entfernung zum Objekt nicht wirklich erfassen. Neben dieser Ähnlichkeit gibt es eine weitere wichtige Gemeinsamkeit, Virus und Architektur beeinflussen unsichtbar unser Leben. Das Virus dringt unbemerkt in uns ein und setzt eine Dynamik in uns in Gang, die zu unserem Schaden ist. Die Architektur dringt nicht wie ein Virus in uns ein, sie lässt eine Atmosphäre entstehen und die beeinflusst uns negativ oder positiv. Wie eine solche Atmosphäre wirkt, ist durch die Maßnahmen zum Schutz vor der Infektion mit diesem Virus wie mit einem Brennglas offensichtlicher geworden. Der Schriftsteller Eugen Ruge formulierte es so: „Mit Corona sieht man besser.“ Die Ausgehbeschränkungen führen zu menschenleeren Städten und entblößten die gewohnte Architektur. Was sonst kaum wahrgenommen wird, zeigt sich so sehr viel eindringlicher.

Sich bewegen können

Die erste Erkenntnis dieser Beobachtung dürfte sein, dass ein großer Teil der Architektur der Bewegungsmöglichkeit dient. Leere Autobahnen und Straßen wirkten seltsam fremd, wenn sich auf ihnen keine Fahrzeuge befinden. Diese Architektur ist fast ausschließlich durch ihre Funktion bestimmt und verschwindet, wenn sie nicht benutzt wird. Von stillgelegten Gleisen kennen wir das Bild des Überwucherns. Innerhalb kurzer Zeit erobert sich die Natur dieses Terrain zurück. Beim Asphalt dauert es etwas länger, bis eine Straße zugewachsen und als solche nicht mehr erkennbar ist. Straßen, Autobahnen und Bahngleise unterscheiden sich von Wanderwegen in einem ganz entscheidenden Punkt: Der Weg durch einen Wald, über ein Feld oder eine Wiese wird mit jedem Wanderer wieder neu zum Weg oder gefestigter. Selbst wenn der Weg nicht mehr zu sehen ist, kann er wieder neu entstehen, weil sich der Wanderer an den Markierungszeichen orientiert oder an der Himmelsrichtung. Straßen machen dieses immer wieder Neu-Befestigen überflüssig, hier ist es umgekehrt, die Straßen müssen ausgebessert oder saniert werden, weil so viele Menschen sie benutzen.

Bebautes ist nicht still

Eine zweite Beobachtung ist, dass Architektur mit Lärm verbunden ist. Insbesondere bei den Straßen ist dies hörbar, leere Straßen sind ohne Geräusche. Ebenso ist es bei Plätzen, der gewohnte Geräuschpegel auf Marktplätzen, Bahnhofsvorplätzen, Parks und ähnlichen Orten waren nicht mehr da, wenn man jetzt durch die Strßen ging. Die Architektur spricht den Beobachter unmittelbar an. Es wird deutlich, dass wir Gebäude und Plätze mit etwas Weiterem verbinden. Wir sehen nicht nur den Muschelplatz in Siena, wir hören ihn auch, weil viele Menschen dort Gehgeräusche machen und sich unterhalten. Diese Situation verhilft zu erspüren, warum manche Plätze anziehender sind als andere. Wenn ein Ort auch ohne Menschen gemütlich wirkt, dann muss es an der Architektur liegen oder an bestimmten Aspekten im Umfeld.

Einkaufsstraßen wirken wie tot

Drittens können wir in den Einkaufsstraßen erleben, wie einseitig Architektur hier ist. Ohne Auslagen in den Fenstern und ohne Menschen, die ein- und ausströmen, erscheinen die Straßen und Gebäude fade. Das fällt uns nicht auf, wenn wir im Einkaufstrubel sind. Die Architektur ist angelegt darauf, dass wir an diesen Orten von Geschäft zu Geschäft gehen, Autos vielleicht davor parken können und eventuell einen Kaffee trinken oder ein Eis essen. Vor allem in Einkaufszentren wird spürbar, wie ungemütlich solche Cafés oder gastronomischen Einrichtungen sind. Diese Orte sind leer, wenn sich dort keine Menschen aufhalten. Cafés auf einem Platz, vor einer Kirche, einem Schloss oder in einem Park strahlen etwas ganz Anderes aus und laden zum Verweilen ein.

Der Unterschied zu einer gewachsenen Stadt

Und hiermit lässt sich auch der Gedanke verbinden, dass solche Orte wie Einkaufsstraßen geschichtslos sind. Sie verweisen nicht auf etwas Anderes, sondern zeugen nur von den Einkaufsmöglichkeiten und vielleicht dem Reichtum einer Stadt, weil dort viele hochpreisige Waren angeboten werden. Im Gegensatz dazu ist eine Altstadt mit engen Gassen, schiefen Häusern, pompösen Eingängen usw. auch ohne Menschen aufgefüllt. Tafeln an Häusern verweisen darauf, dass mal Goethe hier genächtigt hat, dass es das älteste Haus in dieser Stadt ist u. ä. Der Verweischarakter, auch wenn er mehr dem Tourismus dienen mag als der historischen Bedeutung, macht die Steine oder den Beton „wärmer“.

Transparente Architektur

Im Gegensatz zum Verweischarakter alter Gebäude oder Städte, steht im Vordergrund moderner Architektur die Transparenz. Der Berliner Hauptbahnhof ist aus Glas und ich kann sehen, was in seinem Inneren passiert. Viele neue Gebäude sind offen, große Glasfronten ermöglichen den Blick nach innen und auch nach außen. Die Grenzen sind aufgehoben, die Mauern gefallen, so könnte man prosaisch formulieren. Und wenn die Strukturen so offen wie die Gebäude sind, dann lassen sich die verborgenen Geheimnisse leichter aufklären. Der gesellschaftliche Druck zur Aufklärung der Missbrauchsskandale und die transparente Architektur stehen so vielleicht in einem engen Zusammenhang.

Viren, ob biologische oder digitale, unterlaufen die Barrieren

Dass Transparenz jedoch kein wirklicher oder allumfassender Schutz ist, macht die Virusinfektion deutlich. Die Viren sind auch bei der größten Transparenz nicht zu sehen. Es sind Schutzmaßnahmen nötig, die wieder verbergen. Gleichzeitig dringt der „Feind“ - und das ist die Erfahrung der letzten Jahre - ganz anders in ein Haus ein. Viren, Trojaner usw. sind vor allem als Bedrohungen über das Internet gefährlich geworden. Dagegen hilft keine Mauer, keine Zugbrücke o. ä., es braucht Antivirenprogramme und trotzdem weiß jeder, der im Internet unterwegs ist, dass seine Daten auf geheimnisvolle Weise genutzt werden, um zum Beispiel passgenaue Werbung zu erhalten. Wenn der amerikanische Präsident Donald Trump ankündigt, dass staatliche Gebäude ab einer bestimmten Größe im klassizistischen Stil gebaut werden sollen, dann dürfte dies weniger mit Ästhetik zu tun haben, sondern mit der Sehnsucht nach Schutz. Und dies wird als symbolisches Bollwerk nach stalinistischen Geschmacks- und Repräsentationsvorlieben gestaltet. In Deutschland würde eine solche Symbolarchitektur kaum angenommen werden.

Beschaulichkeit als deutscher Charakterzug

Das Land der Dichter und Denker schützt sich eher mit einer Symbolik, die Innerlichkeit repräsentiert. Friedrich Hölderlin, der als einer der wichtigsten deutschen Dichter in 2020 geehrt wird, hat im Turm viele seiner Gedichte geschrieben, die sich oft nur erschließen, wenn man sie mehrmals liest und lange sich entfalten lässt. Vielleicht liegt in dieser vom deutschen Idealismus geprägten Innerlichkeit auch ein Grund dafür vor, dass die Zahl der Toten in Deutschland relativ niedrig ist. Im Gegensatz zu den Franzosen führen die Deutschen sprachlich keinen Krieg gegen das Virus und errichten kein symbolisches Fort, damit die Feinde nicht in das Land eindringen. Die Architektur oder die Städteplanung in Deutschland sind anders ausgerichtet. In Dresden wird ein großer Teil der Altstadt wieder aufgebaut und in Berlin das Schloss. Damit wird bewusst ein geschichtlicher Zusammenhang zur Moderne hergestellt, denn die Gebäude werden nicht Stein für Stein wieder aufgebaut, vielmehr sollen sie nur ein möglichst genaues Bild von dem wiedergeben, was dort einmal stand. Und dass Großprojekte wie der Berliner Flughafen oder der Stuttgarter Bahnhof nur mühsam vorankommen, könnte ein Widerstand des Unterbewusstseins der „deutschen Seele“ gegen eine Architektur sein, die Assoziationen an Albert Speer und die nationalsozialistische Architektur wecken. Auch das Bundeskanzleramt in Berlin war umstritten und wurde als „Waschmaschine“ verspottet. Helmut Kohl wollte mit diesem Bau die Bedeutung Deutschlands repräsentativ und symbolisch hervorheben. Die Deutschen waren bis dahin jedoch das beschauliche Bonn gewöhnt und wahrscheinlich entspricht dies auch mehr der deutschen Seele. Die Hochhäuser in Frankfurt haben nie eine wirkliche Attraktion wie die Wolkenkratzer in New York und anderswo erreicht. Und es dürfte eine tiefe Sehnsucht nach Innerlichkeit und Besinnlichkeit in dem Vorhaben zu finden sein, die Oper in Frankfurt abzureißen und einen repräsentativen Neubau als Gegenpol zu diesen Hochhäusern zu errichten. Vielleicht ist dies ein Kennzeichen deutscher Architektur, Gebäude nicht vornehmlich als symbolische oder repräsentative Monstranzen zu bauen, sondern als Häuser, in denen etwas stattfindet oder die etwas aussagen und damit geschichtliche oder kulturelle Bezüge herstellen.

Der Gang durch die jetzt menschenleeren Städte ließ den Blick auf eine Architektur zu, die von Lärm und Funktionalisierung befreit ist und eben deshalb ein wenig von den Wünschen, Sehnsüchten und Eigenarten ihrer Bewohner erzählt. Insofern sieht man mit Corona nicht nur besser, man erfährt eine Stadt, die Architektur und auch die Bewohner, obwohl man sie gar nicht sieht, in dieser Ruhe genauer. Und diese Erfahrungen können uns eine Hilfe sein, kreative Ideen für das Überleben in der Krise zu entwickeln und auf eine Architektur hinzuwirken, die Ausdruck der Seele ist und menschenfreundliche Anreize setzt.


Kategorie: Entdecken

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