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Aura des einfachen: Mikrologien räumlichen Erlebens

Wie wirkt die Stille? Was kann über Wind gedacht werden? Wie lässt sich Aroma begreifen? Mit Mikrologien räumlichen Erlebens führt Jürgen Hasse an die Phänomene heran.

Wir sind es gewohnt, naturwissenschaftliche Fakten zu sammeln und mit mathematischen Formeln Welt zu verstehen. Lässt der Beobachter sich von den Objekten sinnlich berühren, wird die Erfassung der Welt zu einer leiblichen Erfahrung und dann spürt der Beobachter das Objekt in sich, was zu einer ungewohnten Grenzverschiebung von Subjekt und Objekt führt.

Der Mensch kann Objekte gnostisch auffassen oder pathisch. Er kann etwas über den Wind, die Stille, ein Aroma wissen oder er spürt sinnlich, was diese Objekte mit ihm machen. Einmal bedarf es der Wissensaneignung und im anderen Fall ist Übung notwendig, um die Aufmerksamkeit in angemessener Weise lenken zu können. „Diese sinnliche Berührung vollzieht sich auf dem Weg leiblicher Kommunikation, >spricht< also die Person in ihrem sich selbst spürenden Sein an.“ Ein solcher Wechsel der Wahrnehmung verlangt es, die Kultur der in einer Gesellschaft üblichen Aufmerksamkeit zu kennen und sich von den gültigen Relevanz-Systemen zu befreien. Diese Aneignung einer bestimmten Aufmerksamkeitstechnologie ist gleichzeitig eine Selbst-Sorge. Denn die Aufmerksamkeits- und Beschreibungsmethoden führen zu einer größeren Klarheit im Bezogensein auf Welt, sie vermitteln eine Kompetenz der Aneignung von Welt.

Fühlen und Denken

Es ist üblich, Welt sich durch das Denken anzueignen. Naturgesetze bilden ab, was als gesichert gelten kann. Solche Ordnungen können intellektuell verstanden werden. Mit einer kognitiven Erkenntnis ist noch nicht geklärt oder begriffen, „Was es bedeutet, als lebendige Person vom Gefühl der Stille oder – in ganz anderer Weise – von der Macht einer Sturmböe erfasst zu werden,…“ Der leiblich wahrnehmende Mensch kann die atmosphärische und affektive Verwicklung nicht abtrennen vom Erkenntnisprozess. Phänomene sind damit mehr als objektive Beschreibungen. Das Fühlen wird dem Denken nicht entgegengesetzt, es ist vielmehr notwendig für die Erkenntnis der Art von Beziehung zum Objekt. Gefühlsmäßig ist das Subjekt mit dem Objekt verbunden. Hier ergibt sich die Grenze von Erkenntnis, weil ein Objekt durch die leiblichen Möglichkeiten der Wahrnehmung Gefühle beschränkt und damit das Inbeziehungtreten mit dem Objekt auf die vorgegebenen Möglichkeiten festlegt.

Die Schwierigkeit im Formulieren

Die Sprache, mit der jemand seine leibliche Erfahrung von Stille beschreibt, ähnelt dem Poetischen. Es lassen sich Begriffe nicht eindeutig klären. Und es geht auch gar nicht um eine exakte Begrifflichkeit. Denn es soll nachvollziehbar werden, wie ein Beobachter zum Beispiel die Kirche St. Michael in München fühlt. Es ließen sich kunsthistorische Fakten aufzählen, architektonische Kenntnisse könnten vermittelt werden, doch wie sich die Stille in dieser Kirche, die an der Einkaufsstraße in München liegt, anfühlt, wodurch das Gefühl von Stille entsteht, das lässt sich mit solchen Daten nicht nachvollziehen. Das ist wie mit einer Speisekarte, der Name eines Gerichts vermittelt nicht den Geschmack. Oder die Atmosphäre einer Kirche vermittelt sich beim Eintritt völlig anders, wenn das Hochamt durch den Geruch von Weihrauch noch riechbar ist. Um solche Phänomene verdeutlichen und anderen verständlich machen zu können, ist der Bezug zur leiblichen Erfahrung notwendig. Hierfür bedarf es einer leiblichen Sprache. Es ist wichtig, die Aufmerksamkeit auf Eindrücke zu richten, das Wahrgenommene als Denkwürdiges anzuerkennen und es in einer eher erzählerischen Form zu erfassen als in einer analytischen Deutung. „Die Mikrologien räumlichen Erlebens erweisen sich so als phänomenologische >Autopsien<, die das, was sie der Reflexion zugänglich machen, allein der geschärften Aufmerksamkeit verdanken und nicht ausgefeilten Suchinstrumenten wissenschaftlicher Theorien.“

Das Olfaktorische, die Stille, der Wind und das Warten

Jürgen Hasse hat sich daran gewagt, solche Mikrologien räumlichen Erlebens verständlich zu machen. Da geht es um Gerüche im ICE, um Stille in der Kirche St. Nikolaus in Rhede oder St. Michael in München, es handelt von Wind und Windstille sowie vom Warten im Frankfurter oder Klagenfurter Flughafen. Dass diese Annäherungen manchmal holprig sind, dass doch Vorannahmen gemacht werden, das liegt in der Natur der Sache. Der Mensch kann nicht ohne Vorannahmen reden, da er immer auch ein Produkt seiner Kultur ist. Die Sprache ist manches Mal unverständlich, weil der Autor eine Sprachformung durchlaufen ist, die bei Jürgen Hasse maßgeblich durch Hermann Schmitz geprägt ist, dem Begründer der Neuen Phänomenologie. Nimmt man die Einschränkungen als eine Aufgabe, selber zu formulieren, was gemeint sein könnte, dann erschließt sich ein neues Universum. Atmosphären werden fühlbar, die Aufmerksamkeit durchläuft beim Lesen eine Schulung. Und das heißt dann als letzte Konsequenz, „den Individuen ihre Verfügungsgewalt über ihre eigenen Sinne aus dem Einflussbereich der Macht der Zivilisation gewissermaßen zurückzugeben, um – wenn auch sicher nie in Gänze, so doch in erweiterten Handlungsfeldern – selbst-bewusst agieren zu können.“ 

Jürgen Hasse, 2017. Die Aura des Einfachen. Mikrologien räumlichen Erlebens. Freiburg / München Karl Alber. 34,00 Euro



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