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Alter- endlich weise

Nicht mehr in die Geschäfte und ihre Konflikte verwickelt, kann ich die Welt und die Menschen so anschauen, wie sie sind. Das größere Ganze abschreiten, um eine tiefere Ebene zu erreichen. Denn die Tätigen brauchen weise Senioren im Hintergrund, um zu guten Entscheidungen zu kommen, ohne dass diese ihnen reinreden müssen. Wie "geht" dann Weisheit:

Alter heißt, nicht mehr auf das Machen setzen

Solange ich etwas projektieren, bauen, ordnen, digitalisieren will, verwickle ich mich in die Gegebenheiten und die Widerstände, die notwendig geweckt werden, schon in mir selbst, wenn ich ein Vorhaben entwickle. Ich muss immer neu herausfinden, mit wem etwas geht. Ich werde zum Rückziehen gezwungen und muss die Folgen meiner Fehler aushalten. Ich brauche Energie und Durchhaltevermögen, denn welche Software funktioniert auf Anhieb. Das verstellt den Blick für größere Zusammenhänge. Ich weiß oft nicht, ob ich auf dem richtigen Weg bin. Und manchmal frage ich mich, ob sich mein Einsatz überhaupt lohnt. Das bleibt auch im Alter, aber ich kann anders auf die Welt und die Menschen zugehen.

Den Hunger ablegen können

In den tätigen Lebensphasen ist Energie gefragt. Der Sport symbolisiert das, was eine auf Wettbewerb basierende Gesellschaft jedem abverlangt. Kräftemäßig bis an die Grenze gehen. Hunger nicht nur auf Nahrung, sondern auch auf Leistung, Erfolg, Gewinn. Im "Ruhestand" angekommen, kann ich nicht nur die Essensmenge deutlich reduzieren, sondern auch den Erlebnis- und Erfolgs-Hunger. Inwieweit ich da ankomme, kann ich daran ablesen, ob ich Zeit habe. Die gewinne ich, wenn ich bestimmte Entscheidungen treffe.

Die wichtigen Entscheidung den Tätigen überlassen

Ich kann versuchen, meinen Einfluss direkt auszuüben. Dann erleben mich die Tätigen als Besserwisser, vor dem sie sich rechtfertigen müssen. Ich kann mich auch für das interessieren, was sie planen, wie sie es hinbekommen, ihnen Ängste nehmen, indem ich ihnen vertraue. Weisheit gewinne ich umso mehr, je weniger ich ihnen reinreden muss. Das ist eine besondere Klippe, nämlich stillzuhalten. Ich kann aus der Spur herausfinden, in der ich möglicherweise Jahrzehnte gelaufen bin: Die Spur konnte so geheißen haben: "Entscheidungen taugen nicht, wenn ich sie nicht veranlasst und durchgesetzt habe." Aus diesem Alter bin ich "raus". Es genügt, wenn die nächsten zwei Generationen mit den Folgen der Entscheidungen leben müssen, mit denen ich die Welt gestaltet habe. 

Überwindung des Ressentiments

Wir lassen nämlich die Welt zurück, die wir konkret gestaltet haben. Es ist nicht unbedingt die Welt, die wir gewollt haben. Sie ist voller Fehler und nicht das, was wir uns erhofft haben. Enttäuschung, Ressentiment kann diese Einsicht bewirken. Sollen die Jüngeren das aushalten? Müssen die nächsten Generationen unsere Ideen verwirklichen? Es reicht doch, mit dem, zurechtzukommen, was wir hinterlassen. Dazu gehört auch das zu viele Kohlendoxyd.

Die Arbeit an der Weisheit

Loslassen, die Gestaltung der Welt den nächsten Generationen anvertrauen, Entscheidungen den anderen übergeben. Der Abstand, den ich so gewinne, eröffnet der Weisheit erst einmal Räume, die ich in den Jahren des Tätigseins nicht bewohnt habe. Allenfalls ahnte ich, dass mir noch etwas Anderes offenstand, als mich zu betätigen. Aber was mache ich in den Räumen, in denen die Weisheit auf mich wartet. Die Weisheit lockt, mich den grundlegenderen Fragen zu beschäftigen, was der Menschen in tieferen Schichten bewegt, was die Suche nach Sinn wirklich beantworten könnte, wie sich alles entwickelt und damit auch Neues sich in der Zukunft entwickeln wird, wo ich endgültig mich niederlassen, zur Ruhe kommen werde. Sie hat ja nicht in dem Sinne Aufträge für mich, wie sie mir das aktive Leben früher ständig gestellt hat. Sie will nicht "gemacht", sondern erfahren werden. Wenn ich mich in ihre Gegenwart setze, dann kommen die Erinnerungen hoch.
Die Erinnerungen, die aus meinem Gedächtnis aufsteigen, lehren mich, andere und mich selbst zu verstehen. Es ist wie wenn ich auf einer Bank am Unterlauf eines Flusses sitze, beobachte, wie das Wasser gemächlich auf die Mündung zufließt. Wie es von seinem Oberlauf viele Geschichten mitbringt, steigen in mir Geschehnisse, Begegnungen, Kämpfe, Durststrecken auf. Ich muss mich den Fehlern stellen, die ich gemacht habe, dem Schlechten, was von mir ausgegangen ist. Bleibe ich in der Nähe der Weisheit, dann kann ich alles anschauen, so wie es war und was daraus geworden ist. Ich muss es mir nicht mehr zurechtbiegen, noch verdrängen. Wenn ich das alles "erwogen" habe, ändert sich meine Ausstrahlung. Die Jüngeren können mein Wohlwollen spüren und müssen nicht den misstrauischen Blick ertragen: "Du machst schon wieder etwas falsch.“

Weisheit wirkt anders

Wenn wir uns in der Nähe der Weisheit aufhalten, gelingt uns eine innere Umstellung. Wir übernehmen die Wirkweise der Weisheit. Diese greift ja nicht ein, sie kämpft nicht um Einfluss, sie muss nicht Entscheidungen herbeiführen, sie wirkt allein dadurch, dass sie da ist. Das ist die Wirkweise, die die Tätigen im Hintergrund von den Senioren brauchen. Es scheint in unserer, auf Veränderung angelegten Welt nicht mehr gefragt. Anders Kulturen, die wir als unterentwickelt einschätzen, haben den Alten diese Rolle gegeben: Da zu sein, um nur durch ihren Blick für das größere Ganze zu wirken. Denn die dem täglichen Informationsfluss, dem globalen Wettbewerb, den ständig wachsenden Ansprüchen ihrer Kunden Ausgelieferten brauchen nicht noch weitere Antreiber, sondern wohlwollende Interessierte am Leben, wie es sich entwickelt. Die Enkel brauchen nicht weitere Erzieher, sondern wohlwollende Blicke, besonders in der Pubertät. Die Phase danach ist von Herausforderungen bestimmt, vor allem wenn bewusst wird, dass „ich die Verantwortung für mein Leben nicht abschieben kann“. Ich muss für diese Altersgruppe dann nicht mehr Vorbild noch Antreiber sein, sondern Vertrauen ausstrahlen, dass den Jungen der Start ins Leben gelingt. Konkret geht das so, dass ich die Jungen nicht von meinen Jahren der Entscheidung her beurteile, sondern mir erzählen lasse, wo die Stresspunkte heute bei ihnen liegen. So war Burnout früher nicht ein so typisches Symptom, denn es steht für eine Dienstleistungsgesellschaft, die ständig mehr fordert und für den spezifischen Stress der digitalen Datenströme.

Sich in Kultur- und Garten-Räumen aufhalten

Ich habe Zeit, um die Bücher zu lesen, die Filme anzuschauen, die Ausstellungen zu besuchen, mich mit Ländern, Kulturen, Philosophien und Religionen zu befassen, die die verschiedenen Vorstellungen vom Leben spiegeln, mir das Menschsein erklären. Wenn ich das nicht nur analysiere, sondern auf mich wirken lasse.
Um das Wachsenlassen zu meditieren, stellen mir Pflanzen einen Übungsraum zur Verfügung. Der Garten ist ein Gestaltungsraum, es genügen auch ein Balkon oder Pflanzen in der Wohnung. Sie wachsen aus eigener Kraft, ich muss sie nicht zum Keimen bringen. Sie blühen von selbst. Wenn ich ihnen täglich zuschaue, lerne ich, ihr Wachstums fördernd zu gestalten, nicht zu viel gießen, nicht zu viel Dünger. Das Umfeld mit den Pflanzen im Gleichgewicht halten, das bringt auch mein Leben ins Lot. Wenn ich sogar Bäume betreue, die ich selber gepflanzt habe, hinterlasse ich ein Erbe, das nicht so abstrakt ist wie Geld aber die Lebensverhältnisse der nächsten Generationen verbessert. Wer sich unter meinen Baum setzt, findet die kraftvolle Ruhe, die das Durchhalten erträglich macht.

religiös weise werden

Jede Religion und Konfession hat Regeln, Riten, Brauchtum entwickelt, wie ihre Gläubigen die Religion konkret leben. Unter diesen symbolischen Handlungen liegt noch eine Beziehungsebene, nämlich wie ich meine Beziehung zu dem Umgreifenden definiere. Ob ich durch Befolgung der Gebote Gott gerecht werden will oder ob ich Nächstenliebe zum Kern meiner Religiosität mache. Die asiatischen Religionen lassen in der Meditation das Göttliche auf sich wirken. Gläubige können das Kämpferische zur Gottesverehrung wählen, andere Großzügigkeit oder Engagement im Beruf, um mit ihrer Spezialisierung vielen behilflich zu sein. Darunter gibt es noch eine weitere Ebene, die jeder Altersstufe offensteht, besonders aber denen, die aus dem aktiven Tätigsein ausgestiegen sind. Sie können auf ihre religiöse Praxis blicken, ihren Bemühungen, dem Göttlichen gerecht zu werden. Da kann sich zeigen, dass ein Muss mich ständig in die Anstrengung trieb. Oder ich fühlte mich ständig schuldig. Oder es gab die Sicherheit, dass es bei allem Risiko gut ausgehen müsste. Ich kann mir auch eingestehen, dass ich auf andere herabgeblickt habe, die nicht so leistungsfähig, nicht so charmant, nicht so zielstrebig wie ich waren. Wenn mir dann in einer bewussteren Religiosität klar wird, dass nicht Gott mich angetrieben, mich nicht aus jedem Risiko herausgeholt hat, nicht meinen Charme unwiderstehlich gemacht hat, dann bin ich auf der tieferen Ebene angelangt. Ich erkenne, dass die Weise, wie ich mich früher auf das Umgreifende eingelassen habe, nicht von Gott stammt. Gott lässt sich nicht auf die Rolle des Gesetzgebers, des Kämpfers, des Menschfreundes festlegen. Das sind unsere Projektionen, die wir auf Gott übertragen, als würde er so zu uns stehen. Wenn gesagt wird, dass Gott unsere Vorstellungen übersteigt, dann sind es immer noch unsere Vorstellungen, von denen das gesagt wird, z.B. dass er alles weiß, dass er mich und die Menschen überhaupt ändern könnte, wenn er nur wollte, dass er stärker als alle Armeen ist. Wir können diese Vorstellungen loslassen, um Gott so zu "lassen", wie er ist. Damit lernen wir auch, unseren Mitmenschen so zu lassen, wie er, wie sie ist. Wenn Gott will, dass er, dass sie sich ändert, dann wird er sie mit Erfahrungen konfrontieren, die Entwicklungen eröffnen. Denn offensichtlich ist der ganze Kosmos wie das Lebendige auf Entwicklung angelegt, so auch ich in meiner Altersphase.           

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Kategorie: Entdecken

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