Mein Leben kommt zu mir zurück, Foto: hinsehen.net E.B.

Alt geworden – und was jetzt:

Alt sind wir, wenn wir in Pension geschickt werden. Vorher waren wir wenigstens noch für etwas da. Mit der Arbeit hatten wir einen festen Platz in der Gesellschaft. Den neuen Platz müssen wir uns selber bauen. Dann eröffnen sich neue Horizonte, in die wir uns hineintasten können. Uns selber achten, auch um der Jüngeren willen.

Es wird schon von der Bibel so dargestellt: Wenn das erste Elternpaar die Sexualität entdeckt hat, muss es sterben - für die Kinder, denn diese wollen den Bauernhof oder den Betrieb übernehmen. Auch in einer Berufswelt, in der die meisten angestellt sind, gilt das Prinzip: „Den bezahlten Arbeitsplatz freigeben.“ Je weniger es solche Plätze gibt, desto früher. Dann muss ich aber trotzdem nicht „alt aussehen“, sondern kann mit Neuem anfangen

Die Senioren müssen selbst für Sinn sorgen

Mit dem Beruf habee ich mir einfach deshalb Sinn geschaffen, weil andere meine Leistung wollten. Ich war ja nicht für mich, sondern für andere Elektriker, Zahnarzt, Erzieherin, in der Schule, in der Kirchengemeinde tätig. Das Gehalt und das Dankeschön der Kunden bestätigten den Sinn meines Einsatzes. Ich brauchte nur den mir gestellten Aufgaben nachkommen und mich dann nicht mehr um die Sinnerfüllung kümmern, diese stellte sich von selber ein. Beruf sicherte mir so auf direkte Weise Anerkennung.
Ohne diese installierte und mit Gesetzen, Versicherungen und Gewerkschaften abgesicherte berufliche Rolle muss ich mich jetzt selbst um den Sinn kümmern. Damit bin ich den Jungen näher. Wenn sie die Schule verlassen, müssen sie wählen, wo sie für die nächsten 40 Jahre den Sinn finden wollen, mit welchem Studium oder Ausbildung, mit welchem Partner, mit welcher Partnerin. Ich muss das auch neu erfinden. Nur habe ich viel weniger Möglichkeiten.

Ich lebe mehr in meinen Erinnerungen

Was die Jungen noch vor sich haben, ist von mir schon gelebt. Ich schaue zurück und kann feststellen: Es war schwieriger, als ich es anfangs gedacht hatte. Nicht alles ist mir gelungen. Von nicht Wenigen bin ich enttäuscht worden. Je mehr Abstand ich zu meinen früheren Tätigkeiten gewinne, desto mehr steigen Szenen aus den beruflichen Herausforderungen in mir auf, Niederlagen wie Erfolge. Zwar können die wenigsten von uns eine Goldmedaille oder ein Bundesverdienstkreuz vorweisen, aber ganz ohne Erfolge ist niemand. Es ist durchmischt, auch spielt mein Kardinalfehler immer mit herein, mit dem ich mir viel Ablehnung und Widerstand bei anderen eingehandelt habe. Ich muss mit meinen früheren Lebensjahren weiter leben, wie auch mit dem Körper, den ich zu viel strapaziert, den ich mit zu wenig Sorgfalt und Disziplin ernährt habe, mit den vielen Stunden vor dem Bildschirm. Mir wird auch klar, wie wenig ich mich um meine Freunde und Freundinnen gekümmert habe. Hier öffnet sich die Tür in das zu wenig genutzte Zimmer der Gespräche und Begegnungen. Dafür habe ich jetzt Zeit.

Sich versöhnen

Zeit habe ich jetzt auch, mich meinen Niederlagen zu stellen. So schmerzlich sie waren und so herbe Vorwürfe sie gegen die Verursacher rechtfertigen, ich habe auch Anteile daran. Da ich meist denselben Fehler wiederhole, der aus meiner charakterlichen Engführung entspringt, kann ich mich realistischer sehen. Wie eine körperliche Schwäche gehört die Charakterfalle zu mir, ich sollte sie wohlwollend anschauen. Was ich gegen andere verbrochen habe, kann ich zumindest anschauen, vielleicht auch zu einer Aussöhnung kommen. Wenn ich das Ganze in seinen vielen Szenen zulasse, mache ich mich bereit, Neues im Alter anzugehen. Dabei wird mir wahrscheinlich klar:

Sinn garantiert diese Welt auf Dauer nicht

Die von den Betriebswirten dominierte Gesellschaft hat sich eine einfache Sinnerfüllung zurechtgebastelt: Es muss nur Geld herausspringen, je mehr, desto mehr Sinn. Dann bekommen die Gläubigen dieser Religion allerdings nur das, was man für Geld bekommt. Dann gelten Kunstwerke nicht durch das, was sie zur Darstellung bringen, sondern was sie bei Auktionen einspielen. So lässt sich auch Kunst in Geld verwandeln. Karl Marx würde mit seiner Vorstellung bereits weiterhelfen, wie die Entfremdung, in die die einseitige Orientierung am Geld führt, überwunden werden kann. Der Arbeitende soll von dem leben und das genießen, was er erarbeitet hat. Das ist in einer arbeitsteiligen Berufswelt nicht möglich. Aber mit einem Garten könnten Senioren das schon verwirklichen. Sie ernähren sich von dem, was sie selbst gezogen haben. Sie haben auch eher die innere Muße, am an den Kunstwerken teilzuhaben, die das Leben reflektieren und größere Horizonte erschließen. In einem weiteren Horizont führt auch die Religion. Da die Senioren nicht mehr "nützlich" sein müssen, können sie das Leben über die Nützlichkeit hinaus ertasten. Weisheit setzt voraus, dass ich jeden Menschen in seinem Personsein als berechtigt ansehe. Das lässt mich dann auch aushalten, dass alle Arbeit am Sinn vorläufig bleibt. Jede Komposition, jedes Kunstwerk, jeder Roman sind wie auch die religiösen Welten nur vorläufige Anstrengungen des Menschen, sich in das ihn Umgreifende einzuklinken. Es bleibt in dieser Welt nur Ahnung. Wer mit dem eigenen Tod nicht rechnet, wer verdrängt, alleine zurückzubleiben oder in der eigenen Gebrechlichkeit hilflos zu werden, schottet sich gegenüber dem Größeren ab, das ihn aufnehmen könnte. Alter heißt Vorbereitung auf Verwandlung

Wohlwollend gegenüber dem Wachsen

Ein Weg in das Umgreifende bahnt die Meditation des Lebendigen, das sich unter meinen Augen entwickelt. Da ich das Machen der mittleren Generation überlassen muss, ist das Meditieren der Pflanzen, der Tiere, der Menschen die sinngebende Altersbeschäftigung. Denn es braucht mich nicht mehr, dass etwas gestaltet wird. Jedoch das, was Gestalt gewinnt, wartet auf meinen wohlwollenden Blick, ob die Pflanzen auf dem Balkon, die Enkel oder die Vierzigjährigen, die ein Haus bauen, beruflich etwas wagen, sich neu orientieren, um an einer größeren Aufgabe zu wachsen. Diese brauchen von den Älteren keine risiko-ängstlichen Blicke, sondern Rückendeckung mit dem "Das schaffst Du".

Garten ohne Glyphosat

Ich habe viel Kohlendioxyd hinterlassen. Es bräuchte einen ganzen Wald, um das wieder aus der Luft herauszuholen. Ich muss aber diese ganze Last nicht der nächsten Generation überlassen. Ich kann mit Pflanzen eine Lebensgemeinschaft eingehen. Die Luft in der Wohnung würde sehr viel atmungsfreudiger, Kräuter und Salat auf dem Balkon mich mit kleineren Portionen satt machen. Ein kleiner Garten genügt, um sich mit Gemüse, Kräutern und Beeren zu versorgen. Die Kommunen, Kirchengemeinden und zumindest die Grünen sollten allen Senioren 5 Bäume anvertrauen - einfach als Schadenstilgung.

Jesus besser verstehen

Spiritualität im Alter kann sich nicht mehr durch eine religiöse Praxis allein speisen, Kirchgang, Morgen- und Abendgebet brauchen tiefere Wurzeln. Wenn Priester das Brevier nur absolvieren, bleiben ihre Predigten in den Worten stecken. Ich bin im Alter religiös glaubhaft, wenn ich einige der Jesus Impulse in mir habe wirken lassen. Dass ich mehr empfangen als gegeben habe. Dass ich von anderen umso mehr bekomme, je weniger ich fordere, also meine Selbstliebe meine Nächstenliebe nicht amputiert. Dass meine Verbrechen eine Langzeitwirkung bei anderen haben. Dass das Leben ohne Barmherzigkeit ins Leere läuft.

Weitere Beiträge über das Älterwerden folgen. Hier ein erster: Alter heißt Neuanfang


Kategorie: Entdecken

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