Foto: Jutta Mügge

Alles drängt auf eine gelungene Gestalt

Jedes Frühjahr drängt aus den grauen Stämmen und Ästen das Blattwerk, die Pflanzen erblühen, die Saat treibt Halme und Stauden aus dem Boden. Sie kommen aus einem Lebensgrund, um ihre Gestalt, zu finden. Wir leben in einem dynamischen Umfeld und lassen die Kräfte um uns herum auf uns wirken, um selbst zu einer Person zu werden. Wie kommt es zu einer gelungenen Gestalt?

Wir schreiben der Biosphäre eine ihr mitgegebene Kraft zu. Bereits die alten Ägypter wussten, dass die Sonne die Kräfte des Lebendigen freisetzt. Diese Kraft ist auch in mir wirksam. Aus dem jungen Körper erwächst mein Ich und drängt, sich zu entwickeln, um eine endgültige Gestalt zu werden

Mein Ich ist auf Entwicklung angelegt

Aus nur einer Zelle hat sich mein Körper entwickelt, in diesem Körper ist mein Ich erwacht. Ist der Körper von selbst, ohne mein willentliches Zutun, zu diesem Wunderwerk geworden, treibt mein Ich mich weiter. Ich will mein Umfeld erkunden, bahne mir Wege, will mit den Dingen etwas machen, übe meine Hände, lerne zu sprechen und zu berechnen. Die Persönlichkeit, die ich damit geworden bin, ist mein Werk, ich habe mich zu dem gemacht, der ich bin. Wie alles um mich herum bin ich auf Entwicklung angelegt.

Entwicklung ist der Motor

Ich weiß, dass ich nicht wäre, wenn nicht das Leben sich nicht aus einem sehr einfachen Einzeller in vielen Stufen bis zu den ersten Menschen entwickelt hätte. So wie ich mich entwickle, hat sich das Leben insgesamt aus kleinen Anfängen über den ganzen Erdball ausgebreitet und in vielen kleinen Schritten bis zu meinem Denken, Staunen, Begreifen herausgebildet. Der Mensch ist dem Leben gefolgt, sogar bis in die Eiszonen der Pole und in die Bergregionen. Wenn er seine Kriege beendet, könnte er auch die Wüsten mit mehr Leben erfüllen. 

Vom Unbestimmten in Bestimmtes

Wir erleben, wie das Lebendige in eine Gestalt drängt. Mit der Sprache und der Mathematik suchen wir, es zu erfassen. Zuerst ist es nur eine Ahnung, die ausgesprochen werden will, ob als mathematische Formel oder in Sätzen. Alles, was gesagt oder berechnet ist, können wir handhaben. Jedoch, auch wenn alles gesagt wäre, es bliebe das riesige Meer des Geheimnisvollen, aus dem die Zeit hervorquillt und mit ihr Neues. Wir beobachten das Emporkommen von Neuem, ohne die endgültige Gestalt zu erkennen. Ich selbst laufe auf das Alter zu, in eine Phase, in der ich immer weniger machen kann und vom Betreiber meiner eigenen Entwicklung zum Beobachter auch meines eigenen Lebens werde. Dann wird die Frage unausweichlich, die sich uns auf unserem Lebensweg immer wieder aufdrängt, nämlich in welche endgültige Gestalt ich selbst und das Ganze fließen werden. 

Die endgültige Gestalt wird zeitlos sein

Im Blick auf das eigene Leben wie auf die Geschichte insgesamt muss jeder feststellen: Ich bin zu etwas geworden, aber noch unfertig. Jede Epoche bleibt ebenso in ihrer Unfertigkeit stecken. Nur weniges überlebt. Notre Dame in Paris hat diesen Status erreicht, die Kirche wird nicht durch einen Neubau ersetzt. Sinfonien und Theaterstücke werden weiter aufgeführt. Das meiste jedoch, das Menschen geschaffen haben, wird dem Vergessen überantwortet. Solange die Uhr weiter läuft, bleiben wir offensichtlich im Vorläufigen stecken. 
Aber es gibt diesen Lebensgrund. Verspricht er mir die gelungene Gestalt? Dieses Versprechen auf Gelingen trage ich als Wunsch in mir. Es kann sich nicht in dieser Welt erfüllen, in der alles vorläufig bleibt. Dafür muss ich in die Sphäre gelangen, in der es nur Gegenwart gibt. 

Ich selbst bringe die gelungene Person nicht hervor

Ich bleibe, auch bei größter Konzentration, auf halbem Wege stecken. Selbst als erfolgreicher Sportler, als Nobelpreisträger oder Milliardär bleibt noch viel zu Wünschen übrig. Dieses Resultat stellt mich vor eine Entscheidung: "War es das?" oder "löst eine Instanz das Versprechen des Gelingens ein?“ Diese Entscheidung kann die Wissenschaft deshalb nicht beantworten, weil sie nur innerhalb von Raum und Zeit agieren kann, Raum und Zeit mich aber im Unfertigen lassen. 
Deshalb muss ich die Zeitung, die jeden Tag Neues bringt, zur Seite legen, den Bildschirm ausschalten und dann in das Geheimnisvolle blicken, aus dem mein Leben kommt. Ob es das Versprechen, das es mir mit auf den Weg gegeben hat, einlösen wird? Es gibt keine Antwort, die sich wissenschaftlich verfestigen lässt, nur mein Vertrauen in den Lebensgrund kann mich in das endgültige Gelingen tragen. Es muss wohl erst alles Sagbare gesagt, alles Berechenbare gerechnet sein, damit wir vor dem Umfassenden, aus dem alles hervorgeht zu stehen kommen. 


Kategorie: Entdecken

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