Warum kein Aufbruch in der katholischen Kirche?
(explizit.net)
Priester, die größere Seelsorgeverbünde leiten, sind nicht nur mit vielen Aufgaben belastet, sie beobachten die Auflösung bisheriger Pfarr- und Gemeindestrukturen. Sie sehen sich nicht nur an ihrem eigentlichen priesterlichen Auftrag durch die Managementaufgaben gehindert, sie fühlen sich in diesem Auftrag auch von den Mitgliedern der Kerngemeinde nicht mehr so richtig gewollt. Sie sollen eigentlich das Unternehmen „Kirche“ vor Ort am Laufen halten. Die theologischen Inhalte sind wenig gefragt und die Vielfalt der Aufgaben hindert sie, sich theologisch auf dem Laufenden zu halten. Zudem ist die Struktur der Seelsorgsorganisation so ausdifferenziert, dass es einen braucht, der den Überblick behält. Das ist der leitende Pfarrer eines Seelsorgebereiches. Diese Aufgaben beanspruchen nicht nur Zeit, sondern auch Energie. Warum führen aber die neuen Strukturen, d.h. die Räume, die weit größer sind als der Umkreis des bisherigen Kirchturms, nicht zu einem Aufbruch und warum ist das Leitwort des Mannheimer Katholikentages 2012 „Einen neuen Aufbruch wagen“ ein leeres Versprechen geblieben?
Die katholische Kirche gewinnt nicht die aktiven Milieus
Veränderungen in der Gesellschaft werden meist von den nachwachsenden Milieus betrieben. Gegenwärtig sind es die Modernen Performer und die Expeditiven. Die Modernen Performer sind die etwa 25% der leistungsorientiertesten jungen Erwachsenen. Sie sind gut ausgebildet, über die Social Media vernetzt und bauen an der durch Computer und Internet bestimmten technischen Kultur. Die Expeditiven sind die Experimentierer, sie gehen weniger planvoll vor, sie erkunden die neue Kultur, die sich abzeichnet, sind an den verschiedenen Formen der Kultur interessiert und lassen sich kaum festlegen.
Für die Modernen Performer ist das kirchliche Leben viel zu umständlich organisiert, lange Sitzungen von Gremien bemessen sie an dem geringen Output. Sie sind durchaus bereit, das katholische Werteinventar zu übernehmen, sehen aber, dass die Repräsentanten der Kirche sich ablenken lassen, genau diese Werte in die Gesellschaft zu tragen, für die die katholische Kirche stehen soll. Insgesamt wird für sie, auch in den Gottesdiensten, zu viel „gelabert“.
Für die Expeditiven ist das Erscheinungsbild der Kirche zu bieder. Sie sehen die Gemeinden eher daran orientiert, zu bewahren als aktiv auf die neue Kultur zuzugehen. Zwar finden sie in Facebook und anderswo experimentierfreudige Katholiken, da jedoch die katholische Kirche gegenüber den Medien generell und auch wieder den Neuen Medien gegenüber zuerst Reserviertheit demonstriert, können die oft gut gemachten Internetauftritte und die aktiven Facebookgruppen diese junge Zielgruppe nicht überzeugen. Jedoch gerade diese, innerhalb der Sinusmilieus aktivsten Internetnutzer, könnten Explorateure der neuen Kultur sein und für diese Kultur die Sprache, ob mit Worten, mit Musik oder mit Bildern, entwickeln, die es der Katholischen Kirche ermöglichen würde, aus dem Ghetto ihrer bisherigen religiösen Kultur auszubrechen. Dieses Ghetto wird der Kirche nicht von außen aufgezwungen, sondern von ihrer bisher tragenden Schicht, der bürgerlichen Mitte. Was sind die Motive der Bürgerlichen Mitte?
Die Gestalt der katholischen Kirche bewahren
Gegenüber der mittleren und älteren Generation erzeugen die jüngeren Milieus einen Veränderungsdruck. So mussten die Älteren nicht nur lernen, Emails zu schreiben, sie sollen jetzt auch in Facebook mitmachen und sich an den lockeren und persönlichen Kommunikationsstil gewöhnen, der dort gepflegt wird. Sie entscheiden sich meist, das Handy erst gar nicht einzuschalten und es wie das alte Telefon dann zu nutzen, wenn sie jemanden erreichen wollen. Selbst ständig erreichbar zu sein, erscheint zu belastend.
Das Kirchenbild dieser Generation wurde in einer Aufbruchszeit der siebziger und frühen achtziger Jahre geformt, als die Beschlüsse des Konzils in die gemeindliche Praxis umgesetzt wurden. Da gab es in der bundesrepublikanischen Gesellschaft noch nicht so viele Lebenswelten wie sie jetzt mit den Sinusmilieus beschrieben werden. Es waren gerade vier; das, was heute die Bürgerliche Mitte genannt wird, machte über 40% der Bevölkerung aus. Diese Gruppe veränderte in der Kirche fast alles, was sie damals vorfand.
Aus dem 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatte sich ein Typ des Katholischen geformt, der sich mit der Revolution 1848 freigeschwommen hatte, dann aber vom Kulturkampf Bismarcks und dann von Nationalsozialisten und, im Osten Deutschlands, von den Kommunisten bedrängt wurde. Zusammenhalt war die Devise und Immunisierung gegen die Kräfte, die von außen die Identität des Katholischen zerstören wollten.
Aus einer Gesellschaft heraus, die in den ersten Legislaturperioden des Bundestages große Teile der katholischen Soziallehre in die bundesrepublikanische Wirklichkeit umsetzte, ging es nach der Würzburger Synode darum, demokratische Entscheidungsstrukturen und eine offenere Sexualmoral einzuführen. War diese Generation noch katholisch sozialisiert worden, musste sie hinnehmen, dass nur wenige ihrer Kinder sich auf die von ihnen geschaffene „moderne“ Kirche einließen. Die Achtundsechziger-Revolution selbst war marxistisch inspiriert und hielt die Religion für einen Traditionsfaktor, der nur die Heranbildung einer neuen Gesellschaft unnötig behinderte. Die kirchlich Orientierten haben dieses marxistische Konzept nicht übernommen, sie sind in der Kirche geblieben, sie sind immer noch bereit, sich zu engagieren, aber sie haben ihren Erneuerungselan in die Kirche der siebziger Jahre gesteckt. Die Folge ist:
Abschirmen gegen den Veränderungsdruck
Die Entwicklungen, die die Achtundsechziger-Bewegung angestoßen hat, sind nicht Mitte der achtziger Jahre zu einem Abschluss gekommen, sondern jede nachwachsende Generation setzt jeweils zu einem weiteren Umbau der Gesellschaft an. Als Instrument, um diese Veränderungen durchzusetzen, haben die Kinder der Achtundsechziger das nicht revolutionär auf den Straßen inszeniert, sondern mit dem Internet. Interessant ist hier, dass die Elterngeneration die Nutzung dieses Mediums kaum kontrolliert und schon gar nicht Einfluss nimmt. Das war beim Heraufkommen des Fernsehens anders. Der ließ sich auch besser kontrollieren, weil er im Wohnzimmer aufgestellt war. Das ging so lange, bis die Kinder den ausrangierten Fernseher auf ihr Zimmer gestellt bekamen. Anders in den letzten 20 Jahren: Das Internet lassen sich die Älteren von ihren Kindern und Enkeln erklären.
Die Folge ist psychologisch verständlich: Die jetzt die Gemeinden und ihre Gremien bestimmende Generation will das behalten, was sie in jüngeren Jahren aufgebaut hat. Sie verfällt aber in einen entscheidenden Wahrnehmungsfehler und führt die katholische Kirche immer mehr aus der Kultur heraus, die noch als postmodern charakterisierst wird, die aber nicht einfach eine Fortsetzung der Moderne sein wird.
Die Mitte täuscht sich über sich selbst
Die Sinusmilieus in ihrer Zuordnung erklären noch ein Weiteres, nämlich die erstaunliche Selbstgewissheit der kirchlichen Gremien. Das hängt damit zusammen, dass die die Kirche tragende Schicht, also diejenigen, die sich in Gremien wählen lassen und Mitglieder von Verbänden, Chören u.a. sind, meist zur „Bürgerlichen Mitte“ gehören. Für jemanden in der „Mitte“ stellt jedes andere Milieu eine Abweichung dar. Normal und damit auf der richtigen Linie sehen sich diejenigen, die sich in der Mitte positionieren. Die anderen „liegen“ irgendwie nicht so richtig wie sie selbst. Deshalb prallen auch viele neue Ideen, die eine Gemeinde näher an die nachwachsenden Lebenswelten heranbringen würde, an den Gremien einfach ab. Anders als ihre Eltern und Großeltern kämpfen die jüngeren Milieus aber nicht für eine Veränderung der kirchlichen Lebenswelt, sondern bleiben einfach weg. Sie können warten in der Gewissheit, dass ihrer Kultur die Zukunft gehört. Das wird ihnen allein schon damit bewiesen, dass die Konsumgüterindustrie sich immer wieder bemüht, die neuen Kommunikationsmuster zu adaptieren, so Facebook und demnächst das, was nach Facebook kommt. Was ist die Folge:
Die Pfarrstrukturen lösen sich auf
Die Beobachtungen der Pfarrer zeigen deutlich, dass sich unter dem Andrang einer mobileren und durch die mit Handy und Social Media vernetzte Kultur die bisherigen Pfarrstrukturen auflösen. Wie diejenigen, die mit dem Auto in ein Einkaufszentrum fahren, fühlt sich auch nicht mehr der Katholik der achtziger Jahre an seine Gemeinde gebunden. Die Verbände überaltern, nur Messdiener finden sich erstaunlicherweise unter den Jüngeren. Aus der Analyse wird zweierlei deutlich:
- <paragraph xmlns:tmp="http://ez.no/namespaces/ezpublish3/temporary/">Die neuen Möglichkeiten, die die großräumigen Pfarrverbünde eröffnen, werden von der Kerngemeinde deshalb nicht genutzt, weil sie die Lebenswelt bedrohen, die diese sich in siebziger und achtziger Jahren „gebaut“ haben.</paragraph>
- <paragraph xmlns:tmp="http://ez.no/namespaces/ezpublish3/temporary/">Die jüngeren Milieus finden in dieser „Gemeinde“ genannten Lebenswelt kein Zuhause. Sie leben in einer anderen Kultur, vor allem was Rhythmus, Sprache und Musik betrifft. </paragraph>
Auf die jüngeren Milieus zugehen
So lange sich die katholische Kirche an die Bürgerliche Mitte bindet, verliert sie den Anschluss an die sich entwickelte Kultur, denn die meisten Mitglieder der Gremien und die aktiven Mitglieder der Kerngemeinde verteidigen den Lebensraum „Gemeinde“ gegen die Auflösungstendenzen, ohne die Social Media gezielt gegen diesen Auflösungsprozess einzusetzen. Da die jüngeren Milieus sicher sind, dass die bisherige Kultur auf dem Rückzug ist, brauchen sie nicht wie die Achtundsechziger für das Neue zu kämpfen, es setzt sich für sie „von alleine“ durch. Allerdings fehlen sie weitgehend unter dem Nachwuchs, so dass die katholische Kirche im Moment gar keine Chance hat, auf die nächste Generation zuzugehen. Das wird mit Notwendigkeit dazu führen, dass die bisherigen Strukturen nicht in eine neue Kultur transformiert werden können, sondern zerfallen – so wie die Kirche des Barock 1803 mit ihre Säkularisierung einfach nicht mehr da war. Da die jüngeren Milieus nicht mehr für das kirchliche Leben gewonnen werden, es sei denn, ihre Eltern und Großeltern betrieben das, wird ein Großteil der Bevölkerung erst einmal nicht mehr in das kirchliche Leben eingeführt werden. Eine Neuevangelisierung Deutschlands ist schon jetzt notwendig, sie wird aber erst an Fahrt gewinnen, wenn die Kirchenleitungen einsehen, dass die bisherige Gestalt der Kirche „vergeht“ und man sich auf Neues einlassen muss.
Der Erklärungswert Sinusmilieus
Gegenüber der Beschreibung der bundesrepublikanischen Lebenswelten, die aus unerfindlichen Gründen mit „Sinus“ bezeichnet werden, gibt es Reserven. Diese sind wahrscheinlich auch dadurch entstanden, dass die Erkenntnisse der Milieuforschung als eine Art Heilswahrheit verkauft wurden. Deshalb muss festgehalten werden, dass die Sinusmilieus nicht die Wirklichkeit sind, sondern nur ein Versuch, Muster zu erkennen. Es sind auch andere Erklärungsmuster möglich, offensichtlich wird aber das der Sinusmilieus nicht nur als das plausibelste eingesetzt, es hat sich auch im Marketing bewährt.
Die Sinusmilieus beinhalten auch keine Anleitung, was die Kirche zu tun hat. Man kann sich klarer über die Lebensentwürfe von Menschen werden, wie man aber die christliche Perspektive in diese Welten einbringt, das erfordert Kreativität. Die durch Sinus ermöglichte Unterscheidung der Lebenswelten zeigt, dass die katholische Kirche an den „Modernen Performern“ und den „Expeditiven“ deshalb nicht vorbeikommt, weil diese die neue Kultur formen. Aber ob diese Milieus für das Religiöse zukunftsleitend sind, überfordert schon das Erklärungspotential von Sinus. Vielleicht ist es sogar so, dass die Gruppe in der Gesellschaft, die das Religiöse neu entdecken wird, durch die Raster von Sinus gar nicht ausgemacht werden kann.
Deutlich ist allerdings, dass die katholische Kirche sich entscheiden sollte, auf die neue Kultur zuzugehen und sich trauen sollte, diese Kultur aktiv mitzugestalten.
Eckhard Bieger S.J.
Die Beschreibung der Lebenswelten, die mit den 10 Sinusmilieu erklärt werden, findet sich bei kath.de
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