Der Missbrauch fand unter den Augen der Achtundsechziger statt
Die sexuellen Übergriffe auf Kinder waren in den siebziger Jahren am höchsten. Während der Zölibat als das Hauptproblem diskutiert wurde, schaute das kritische Bewusstsein der Reform-Bewegung weg. Der Grundimpuls der Achtundsechziger verstellte den Blick: Die Selbstverwirklichung des Einzelnen war der zentrale Reformimpuls. Nicht nur im Personal der katholischen Kirche, sondern in weiten Kreisen der Gesellschaft kam es zu der Einstellung: Was mir Freude bereitet, wird auch den Kindern gefallen. Pädophile konnten mit dieser Sicht Eingang in Wahlprogramme der Grünen finden. Spiegelbildlich ist der Zölibat als Einschränkung der Selbstverwirklichung abzuschaffen, zumal die Kontrolle der Sexualität als das sublimste Herrschaftsinstrument einer Institution „entlarvt“ wurde.
Die Amtskirche als Feind des Katholiken
Durchgehalten hat sich neben der Grundoption „Selbstverwirklichung“ die neomarxistische Einschätzung der Institution: Diese gilt als Hauptfeind der Selbstverwirklichung. Das hat zu dem Konstrukt der „Amtskirche“ und zu einem grundlegenden Wandel des „katholischen Bewusstseins“ geführt. Der Katholik gehört nicht mehr einfach zu dem großen Körper der Katholischen Kirche, sondern das Volk Gottes muss sich im Kampf gegen die Amtskirche sein Recht auf Selbstverwirklichung erkämpfen. Da Jesus die damalige jüdische „Amtskirche“ kritisierte, fühlte man Jesus auf seiner Seite. Das Zentralkomitee der Deutschen Katholiken hat sich als oberstes Gremium der Laien nicht nur in die Gegenposition zur Amtskirche, d.h. der Bischofskonferenz, manövriert, sondern sich von allen gesellschaftlichen Einflussmöglichkeiten abgeschnitten, indem es sich auf Abschaffung des Zölibats, Priesterweihe der Frau und die Anerkennung einer zweiten Partnerschaft nach einer Scheidung reduzierte. Der Neoliberalismus, der mit seinem Leistungsdruck und der Verachtung der Lohnabhängigen, die als Kostenverursacher definiert wurden, viele Menschen entwertet und am Sinn ihrer Arbeit hat zweifeln lassen, nötigte den katholischen Laien keine Aufmerksamkeit ab. Die digitale Umprogrammierung der gesamten Gesellschaft, die faktische Totalüberwachung auch des religiösen Lebens steht in der Dringlichkeitsliste katholischen Laien weit hinter dem Zölibatsthema. Aber sind die Katholiken von der Ehelosigkeit der Priester wirklich so stark betroffen oder doch von der Maßgabe des Shareholder Values, konkret in der Gewinnmaximierung auf Kosten derer, die den Gewinn erwirtschaften.
Der Werteabbau
Tiefer und bis heute noch wirksamer ist die Um-Funktionierung der Werte für den einzelnen wie für die Gesellschaft. Werden in der biblischen Tradition Werte als Hilfen für den Menschen gesehen, sich zu einer verantwortungsvollen und krisenresistenten Persönlichkeit zu entwickeln, haben die Achtundsechziger eine Neujustierung vorgenommen: Werte greifen, da zu befolgen, in den Prozess der Selbstverwirklichung ein. Da Institutionen auf Befolgung ethischer Normen Wert legen, sind Werte, die nicht aus der Intuition des einzelnen entspringen, verdächtig. Damit hat nicht nur die Katholische Kirche wie andere gesellschaftlichen Größen ihre Kompetenz für Werte verloren. Die Entfaltung und die Überzeugungskraft einer Wertehierarchie wurden damit von den Achtundsechzigern den Medien und der Werbung überantwortet. Da Eltern nicht als autoritär dastehen wollen, halten sie sich in der Betonung von Werten zurück, um dann festzustellen, dass die Medien, inzwischen Facebook, Instagram, YouTube u.a. mehr Einfluss auf ihre Kinder haben als sie selbst. Wenn Werte nicht mehr tragend sind, dann führt das logisch nicht zur Selbstverwirklichung, sondern zur Aufwertung der Institution.
Das Katholische ist auf die Institution reduziert
Werte machen den einzelnen handlungsfähig. Er kann sich auf der Basis seiner Wertvorstellungen sicherer entscheiden. Zudem eröffnen im Werte Entwicklungspotentiale. Da Werte zuerst von außen auf den einzelnen zukommen, braucht es einen Entwicklungsprozess, bis die Werte als sinnvoll akzeptiert und damit in das Innenleben der Person übernommen werden. Gibt es Zweifel an der Berechtigung der Werte, muss der einzelne zu anderen Entscheidungskriterien greifen. Es liegt dann nahe, dass er die Werte auswählt, die ihn persönlich weiterbringen. Das sind aber dann kaum soziale Werte, sondern Leistungsbereitschaft, Durchsetzungsvermögen, Schlauheit, den eigenen Vorteil zu ergreifen sowie die Sorge für den eigenen Körper und ein angenehmes privates Umfeld.
Da die sozialen Werte durch die Selbstbezüglichkeit der Achtundsechziger unterhöhlt worden sind, ist auch das „Katholische“ als Wertegemeinschaft und Milieu einer religiös geprägten Kultur kaum noch greifbar.
Die Dialektik, die die Achtundsechziger bei Hegel hätten lernen können, ist dann auch eingetreten: Die Amtskirche, der eigentliche Feind der religiösen Entfaltung, muss den „Laden zusammenhalten“, weil er von innen dazu zu schwach geworden ist. Das erklärt vielleicht, warum die jetzt im Theologiestudium befindliche Generation auf Festanstellung einen so hohen Wert legt. Wenn die Institution allein trägt und nicht mehr die gemeinsame Wertüberzeugung, dann brauche ich die Institution zum Überleben.
Das kaum noch konturierte Zentralkomitee der katholischen Laien, das die einmal selbstverständliche Einflussnahme auf gesellschaftliche Fragen aufgegeben hat und zu seinen Katholikentagen keine 100.000 Teilnehmer versammeln kann, ist das eine Indiz. Das andere ist der ständige Umbau der Seelsorgsstrukturen, der keine spirituelle Kraft entwickelt, weil er sich nur auf die Strukturen bezieht. Die Amtskirche ist deshalb in sich gefangen, weil sie mit ihrem übergroßen Verwaltungsapparat Spiritualität nicht fassen kann. Sie hat Religion zu einem durch das Bistum finanzierten Verwaltungsvorgang umfunktioniert. Zudem sind Verwaltungen nicht fähig, sich aus sich heraus zu reformieren, wie an der Unfähigkeit, den Missbrauch durch eine überzeugende Idee der Prävention zu begegnen, deutlich wird.
Ein gehörigen Anteil an dem aktuellen Kirchenverständnis hat die Theologie, indem sie die Kirche als Dienstleistungsunternehmen definiert, die mit ihren Hauptamtlichen bestimmte Leistungen anbietet und die Kirchenmitglieder zu Empfängern dieser Leistungen degradiert. Aber die Katholische Kirche ist nicht eine Organisation wie der ADAC, sondern eher einem Sportverein vergleichbar. Das „Training“ soll die einzelnen zu verantwortungsvollen Persönlichkeiten ertüchtigen, die vor den Fragen der Schuld, des Todes, der Unbegreiflichkeit Gottes nicht zurückschrecken.
Kirche als Wertegemeinschaft
Die Reform kann nur darin bestehen, die Werte wieder stark zu machen, indem sie als Weg zur Persönlichkeitsentwicklung vermittelt werden. Das kann nicht nostalgisch geschehen, sondern muss so angelegt sein, dass die Generation Y und die Generation Z überzeugt werden. Wenn die Katholiken sich wieder dazu bekehren, dass sie zusammen eine Wertegemeinschaft bilden, dann erhält auch der Gottesdienst eine neue Kraft.
Wo können die Katholiken das lernen: Von der Caritas, die ja offensichtlich nicht in der Krise steckt, sondern voller Unternehmungsgeist ist und im Unterschied zu den Seelsorgseinheiten neue Projekte nicht nur konzipiert, sondern erfolgreich auf die Beine stellt. Weiter sind die Ergebnisse der Familiensynode, die Umweltenzyklika, und der Missionselan von „Freude am Evangelium“ problemlos im Internet abrufbar.
Zu den Achtundsechzigern sind noch weitere Themen aufzuarbeiten:
- Freiheit, die abhängig macht
- Konfliktverschärfung wird zur Konfliktvermeidung
- Das Zusammentreffen einer neomarxistischen Strömung mit einem zu optimistischen Konzil
- Die auf den Kopf reduzierte Liturgie
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