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Ukraine: Die letzten Proteste stärken den Staat

Straßenproteste in ukrainischen Städten – mitten im Krieg gegen den russischen Aggressor. Es war die drohende Rückkehr der Korruption, die die Bürger erfolgreich demonstrieren ließ. Die Proteste haben den Staat nicht geschwächt, sondern gestärkt. Für den Westen ein Grund, der Ukraine noch mehr Aufmerksamkeit zu schenken.

Die Antikorruptions-Behörden, Erbe der Revolution der Würde, sollte geschwächt werden

Am 22. Juli hat das Parlament der Ukraine ein Gesetzt verabschiedet, das die Unabhängigkeit von zwei Antikorruptionsorganen - dem Nationalen Antikorruptionsbüro (NABU) und der Spezialisierten Antikorruptionsstaatsanwaltschaft (SAP) wesentlich einschränkt. Die beiden Behörden wurden 2015 nach der Revolution der Würde gegründet, als die Ukraine in eine turbulente Phase eintrat. Neben den außenpolitischen Herausforderungen – darunter die russische Annexion der Krim und der von Russland entfachte Krieg im Osten des Landes - musste die Ukraine die prekäre politische Lage stabilisieren und umfassende Reformen durchführen. Eine dieser Reformen war die Gründung von Antikorruptionsorganen. Diese waren auch Bedingung westlicher Partner, insbesondere des Internationalen Währungsfonds (IWF), und galten als Voraussetzung für weitere finanzielle Hilfe sowie der Integration der Ukraine in die EU.

Aufgaben der Institutionen

Das Nationale Antikorruptionsbüro wurde damit beauftragt, die Korruptionsdelikte hochrangiger Amtsträger zu untersuchen, von Beamten und Abgeordneten bis hin zu Richtern und Staatsanwälten. Die Spezialisierte Antikorruptionsstaatsanwaltschaft überwacht die Ermittlungen des NABU und erhebt die Anklagen. Beide Behörden sind dafür zuständig, die Korruption auf höchster Ebene in der Ukraine zu bekämpfen. Besonders bemerkenswert ist, dass diese Institutionen als unabhängige Behörden geschaffen wurden und damit nicht den alten Machtstrukturen untergeordnet sind.

Demokratie in Aktion trotz des Kriegsrechts

Am 22. Juli dieses Jahres wurde von 253 Abgeordneten ein Gesetz verabschiedet, NABU und SAP dem Generalstaatsanwalt unterstell wurden und so ihre Unabhängigkeit verloren. Das Gesetz widerspricht der ursprünglichen Idee dieser Antikorruptionsbehörden, so dass die Gefahr besteht, dass sie einem politischen Einfluss unterworfen zu werden. Zudem wurde das Gesetz unter Missachtung zahlreicher Verfahrensregeln verabschiedet. Die Begründung war, die Antikorruptionsorgane vor möglichem russischen Einfluss zu schützen, was durchaus Sinn macht, allerdings nicht durch komplette Entmachtung der Institutionen, die im Kampf gegen Korruption bereits bedeutende Fortschritte erzielt haben.

Dieses umstrittene Gesetz brachte den gesellschaftlichen Protest auf die Straßen. Am Abend des 22. Juli gingen Hunderte Menschen in Kyjiw auf die Straße und forderten Präsident Selenskyj auf, das beschämende Gesetz mit einem Veto zu belegen. Doch am selben Abend wurde das von Selenskyj unterzeichnete Gesetz auf der Website des Parlaments, der Werchowna Rada veröffentlicht – damit trat es offiziell in Kraft.

Der Westen reagierte

Wie erwartet ließ die Reaktion westlicher Partner nicht lange auf sich warten. Im Einklang mit der ukrainischen Gesellschaft betonten mehrere westliche Politiker die entscheidende Rolle der unabhängigen Antikorruptionsbehörden für die weitere Unterstützung der Ukraine.

Rücknahme des Gesetzes

Am zweiten Tag gingen bereits Tausende Menschen in zahlreichen Städten der Ukraine auf die Straße. Parallel dazu brachten 48 Abgeordnete einen Gesetzentwurf ein, der die Unabhängigkeit von NABU und SAPO wiederherstellen soll. Der Präsident kündigte auch an, einen alternativen Gesetzesentwurf vorzulegen, der solle die Autonomie von Antikorruptionsorganen gewährleisten.
Am 31. Juli hat das Parlament dem Gesetzentwurf des Präsidenten zugestimmt. SAP und NABU behalten weiterhin ihre Unabhängigkeit. Das Dokument wurde auch von Präsident Wolodymyr Selenskyj unterzeichnet.

Zivilgesellschaft stärkt den ukrainischen Staat

Diese Ereignisse sollen die Unterstützung der Ukraine durch westliche Staaten nicht infrage stellen. Kritische Stimmen sowie die russische Propaganda können die Proteste zweifellos nutzen, um die Ukraine als “failed State” darzustellen. Doch gerade die Tatsache, dass die Ukrainer und Ukrainerinnen selbst während eines Krieges auf die Straße gehen und ihre Stimme erheben, ist ein starkes Zeichen für eine funktionierende Demokratie.
Gegen die Unterstellung, die Proteste zerstörten den Staat, spricht, dass keine Forderungen gab, den Präsidenten zu stürzen oder das Parlament aufzulösen. Solche Narrative sind nichts Anderes als russische Propaganda. Deswegen muss man immer aufmerksam bleiben, weil Russland genau weiß, wie es solche Ereignisse ausnutzen kann. Wenn behauptet wird, die Ukraine sei im Kern nicht anders als Russland, lohnt es sich, einen Blick auf die Fakten zu werfen: In den 30 Jahren seit der Unabhängigkeit hat die Ukraine sechs Präsidenten gewählt und drei Revolutionen erlebt. Sie hat eine aktive Zivilgesellschaft hervorgebracht und Institutionen aufgebaut, die zwar nicht perfekt, aber funktionsfähig sind. Die Ukrainer und Ukrainerinnen tolerieren keine Willkür an der Macht. Selbst während des Krieges fordern sie von der Regierung, der Gesellschaft zuzuhören – offen und friedlich auf der Straße. Wichtig ist vor allem, dass es der ukrainischen Zivilgesellschaft gelungen ist, einen Dialog mit der Regierung aufzubauen und dadurch ihr Ziel zu erreichen. Im Gegensatz dazu haben die Russen nicht einmal im Ausland versucht, eine Antikriegsbewegung zu organisieren – von Protesten innerhalb Russlands ist es ganz zu schweigen.

Die Proteste in der Ukraine sind eine aussagekräftige Erinnerung, dass die Macht in den Händen der Bevölkerung liegt und dass man ihr zuhören muss. Unter den Protestierenden konnte man ganz unterschiedliche Vertreter der Gesellschaft treffen: viele Jugendliche, als treibende Kraft jeder Protestbewegung, aber auch Veteranen, Aktivisten, Eltern mit Kindern, Soldaten und Soldatinnen sowie Prominente. Die Ukrainerinnen und Ukrainer wissen genau: Um den Krieg gegen Russland zu überstehen, müssen sie ihre Staatlichkeit und legitime Regierung wahren. Deshalb richten sich die Proteste nicht gegen den Staat, sondern für ihn – für unabhängige Institutionen, für Rechtsstaatlichkeit.


Kategorie: Analysiert

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