Foto: Lena Herrmann

Reportage: Zwischen den Kreuzen – Eine Reise zum stillen Glauben Litauens

Der „Berg der Kreuze“ – litauisch Kryžių Kalnas – liegt etwa zehn Autominuten von der Stadt Šiauliai entfernt. Und doch ist dieser Ort mehr als ein touristisches Ziel. Wer hierherkommt, kommt nicht zufällig. Denn was aussieht wie ein religiöses Kunstwerk unter freiem Himmel, ist in Wahrheit ein Geschichtsbuch aus Holz, Eisen und Schmerz. Eine Reportage von www.kath.de.

Ich stehe auf einem Hügel im Norden Litauens. Der Himmel über mir ist strahlend blau, doch der Wind, der durch die zahllosen Kreuze fegt, ist beißend kalt. Metallplaketten klirren, Holzkreuze ächzen, kleine Rosenkränze schlagen gegeneinander. Ein leises Radio, irgendwoversteckt zwischen den Kreuzen, spielt eine schwer zu verstehende Tonfolge. Vielleicht litauische Gebete, vielleicht ein Kirchenprogramm. Ich verstehe es nicht, aber es gehört dazu. Ich suche es, aber kann es nicht finden. Es macht die Stille zwischen den Kreuzen noch eindringlicher.

Der „Berg der Kreuze“ – litauisch Kryžių Kalnas – liegt etwa zehn Autominuten von der Stadt Šiauliai entfernt. Und doch ist dieser Ort mehr als ein touristisches Ziel. Wer hierherkommt, kommt nicht zufällig. Denn was aussieht wie ein religiöses Kunstwerk unter freiem Himmel, ist in Wahrheit ein Geschichtsbuch aus Holz, Eisen und Schmerz.

Ein Ort des Widerstands

Die ersten Kreuze sollen Mitte des 19. Jahrhunderts errichtet worden sein, als Zeichen der Trauer um gefallene Freiheitskämpfer im Aufstand gegen das Russische Reich. Die meisten dieser Kämpfer blieben spurlos verschwunden. Ihre Angehörigen begannen, an dieser Stelle Kreuze zu setzen, für die Toten ohne Grab. Aus einem Ort der Erinnerung wurde ein Ort des Widerstands. Und das blieb er auch im 20. Jahrhundert.

Während der sowjetischen Besatzungszeit war Religion verboten. Der Berg der Kreuze galt den Machthabern als Provokation, als trotziges Symbol eines Glaubens, den sie auslöschen wollten. Immer wieder rückten Bulldozer an, rissen die Kreuze nieder, verbrannten sie, ebneten den Hügel ein. Doch immer wieder kamen die Menschen zurück. In dunkler Nacht schlichen sie auf den Hügel und setzten neue Kreuze, oft unter Lebensgefahr. Sie kamen aus ganz Litauen, aus Polen, aus Deutschland und brachten, was sie hatten: ein Stück Holz, einen alten Nagel, ein kleines Kreuz aus Draht. Die Kreuze vermehrten sich trotz Verbot. Der Glaube schwieg, aber er verschwand nicht.

Zwischen Pilgerweg und Postkartenmotiv

Heute stehen über 100.000 Kreuze auf diesem Hügel. Große, kunstvoll verzierte. Kleine, schlichte. Viele sind individuell gestaltet, andere ähneln sich auffällig, wahrscheinlich stammen sie aus dem kleinen Souvenirshop am Touristenbüro nebenan. Selbst das einfachste Kreuz wird bedeutsam, wenn es von jemandem mit Hoffnung hierher getragen und aufgestellt wurde. Ich lese Namen, Botschaften, Psalmzitate in vielen Sprachen: Deutsch, Litauisch, Englisch, Portugiesisch, sogar Hebräisch.

Es ist früh am Morgen, noch ist es ruhig. Doch gegen Mittag wird es voller. Familien, Pilger, Touristen. Viele tragen Kreuze in der Hand, frisch gekauft. Andere holen sie aus dem Auto, sorgfältig eingewickelt, als wären sie ein Schatz. Hinten, ein wenig abseits, führt ein schmaler Weg zu einer kleinen Kapelle. Von außen hört man nichts. Aber wer eintritt, kann lauschen: Ein Kinderchor singt. Klare Stimmen, einfache Melodien. Es ist, als würde dieser Ort atmen.

Der Besuch des Papstes

1993 kam Papst Johannes Paul II. an diesen Ort, als Pilger, nicht als Triumphator. Für ihn war der Berg der Kreuze ein Ort des stillen Heldentums, der Glaubensfestigkeit und des Leids, das im Verborgenen getragen wurde. „Ich habe lange auf diesen Tag gewartet“, sagte er in seiner Predigt. Und tatsächlich: Es war ein heiliger Moment. Tausende Menschen besuchten den Ort, als der Papst inmitten der Kreuze seine Worte sprach.

Er erinnerte an die dunkle Zeit der Verfolgung, an die Deportationen, an Priester und Bischöfe, die gefoltert und ermordet wurden, und an die „unsichtbaren Märtyrer“ der sowjetischen Repression. In Christus, dem Gekreuzigten, sah er die Kraft, die all das Leid trug. „Das Kreuz war für die ganze Nation und die Kirche eine Quelle des Segens, ein Zeichen der Versöhnung zwischen den Menschen“, sagte er.

Die Liturgie jenes Tages war durchdrungen vom „Geheimnis der Kreuzverherrlichung“, wie Johannes Paul II. es nannte. Der Berg wurde zum Symbol für die Würde des Menschen – auch des gedemütigten, entrechteten, geschundenen Menschen. „Der Mensch ist schwach“, sagte der Papst, „aber dieser schwache Mensch kann im Kreuz Christi stark sein.“ Es war keine leere Hoffnung, sondern eine Einladung, den Glauben nicht als Rückzug, sondern als Widerstand zu leben.

Was bleibt

Ich bleibe noch eine Weile. Schaue auf die Kreuze. Manche sind schon halb versunken im Boden. Andere wirken, als wären sie erst gestern aufgestellt worden. Der Wind weht. Ich habe kein eigenes Kreuz dagelassen. Aber ich bin nicht leer gegangen.

Denn dieser Hügel erzählt von einem Glauben, der sich nicht schreit, sondern standhält – im Wind, in der Kälte, unter den Stiefeln der Mächtigen. Und vielleicht ist das die stärkste Botschaft, die man von hier mitnehmen kann.

Lena Herrmann
(kath.de - Redaktion)


Kategorie: Analysiert

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