Das postmoderne Umfeld der Freiheit erfordert keinen Kampf mehr
Wenn ich in jungen Jahren schon zwischen über 360 Ausbildungsberufen und 20.000 Masterstudiengängen wählen muss, dann muss ich, wenn ich mich für eine Lehre entscheide, bereits 359 andere berufliche Perspektiven abwählen. Das Lebensmodell für eine Partnerschaft zu finden, die nicht an den ersten Differenzen wie in einer Sackgasse endet, wird durch die wachsende Anzahl der Beratungs- und Therapieangebote immer mehr zu einer Entscheidung, für die sich der einzelne ganz auf sich selbst gestellt erlebt. Dieses Erleben wird durch das Internet verstärkt. Es gibt immer noch etwas, das ich anschauen, das ich lesen muss. Waren früher die Nachrichten auf meist 32 Seiten der Zeitung begrenzt und hat man sich früher einmal am Tag oder mit Freundinnen und Freunden vielleicht wöchentlich ausgetauscht, ist man über die Sozialen Medien ständig über die anderen auf dem Laufenden. Die Freiheit scheint mit der immer noch wachsenden Zahl der Möglichkeiten zugeschüttet zu werden. Der junge Mensch muss nicht mehr Freiheit erkämpfen, sondern mit der Vielzahl der Möglichkeiten so fertig werden, dass er selbst über sein Leben bestimmt.
Freiheit ist letztlich sich selbst unterworfen
Freiheit, ob von den Eltern abgetrotzt oder in langen politischen und gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen erkämpft, braucht Gestaltung. Heute sind die Gestaltungsmöglichkeiten ins Unübersichtliche gewachsen. Man kann dafür Orientierung im Zeitmanagement suchen, bei Ratgebern, in spirituellen Schulen. Auch hier muss ich entscheiden. Denn wenn die Freiheit wirklich ernst gemeint ist, dann gibt es über ihr keine Instanz, der sie sich unterwerfen müsste. Sie braucht für die jetzigen Bedingungen, in denen der einzelnen Entscheidungen treffen muss, offensichtlich eine andere Kraft als die, mit der sie, auch letzthin in der Überwindung des Kommunismus, sich Freiräume erkämpft hat. Musste früher Freiheit erkämpft werden, weil staatliche, kirchliche, gesellschaftliche Einflussnahme die Spielräume für die einzelnen unnötig eingrenzten, geht es heute um etwas Anderes
Freiheit ist nach vorne offen
Freiheit ist auf die Zukunft ausgerichtet, denn die Gegenwart ist weitgehend durch Entscheidungen in der Vergangenheit vorstrukturiert. Zur Freiheit gehört immer die Unbestimmtheit, wie sich eine Entscheidung umsetzen lässt. Wer ein Höchstmaß an Sicherheit erreichen will, schließt viele Möglichkeiten der Selbstverwirklichung aus. Er gibt zwar seine Freiheit nicht auf, denn selbst wenn er andere z.B. über seine Berufswahl entscheiden ließe, steckt auch darin Freiheit, denn er übernimmt die Entscheidung anderer und entscheidet damit über seinen zukünftigen Lebensweg. zumindest lässt er andere entscheiden. Er kann die Entscheidung anderer, da sie einen besseren Blick für die eigenen Begabungen haben, auch bewusst übernehmen und sich zu eigen machen. Die Entscheidung umzusetzen, bleibt die eigene Lebensaufgabe. Diese Entschiedenheit, das zeigen viele Beobachtungen, ist umso größer, je mehr es die eigene Entscheidung ist. Wer die Entscheidung für eine Ausbildung, ein Studium selbst getroffen hat, wird sich auch motivierter die Kompetenzen aneignen, die der angestrebte Beruf erfordert. Hier zeigt sich deutlicher, um Was es in der Entscheidung geht:
Ich entscheide mich für Werte
Mit einer Entscheidung für einen Beruf verbinde ich Wertvorstellungen, nämlich was ich mit den vielen Stunden meiner Berufstätigkeit erreichen will. Hier ordnet sich dann auch das oben angesprochene Sicherheitsbedürfnisse ein. Orientiert sich die Berufswahl an diesem Wert, werde ich diesen auch in der Berufspraxis umsetzen. Das muss nicht eine Beamtenposition zur Folge haben, ich kann auch als Ingenieur oder Arzt vor allem die Sicherheit im Blick haben. Der Wert "Sicherheit" kommt anderen zugute, auch wenn ich diese Option erst einmal für mich selber gewählt habe. Kommt die Wertebene in den Blick, dann eröffnen sich viele andere Wertdimensionen. Ich kann ein Problem lösen wollen, z.B. mich als Ingenieur oder Juristin in diesem Fach qualifizieren, um einen Beitrag für die Umweltproblematik zu leisten. Ich kann für die zukünftige Lehrtätigkeit ein bestimmtes Fach intensiv studieren, weil ich es wichtig finde, dass die Schule Heranwachsenden gerade dieses Stoffgebiet erschließen sollte. Die Werte, die immer in eine Entscheidung mit einfließen, verbinden mich auch mit übergeordneten Wertdimensionen.
Ich entscheide mich für eine bestimmte Philosophie
Die Werte, an denen ich meine Entscheidungen orientiere, sind noch einmal in allgemeineren Wertdimensionen verankert. Wenn mich der Umweltgedanke leitet und z.B. meinem Jurastudium einen besonderen Spin gibt, dann werde ich mich mit den Rechtsfragen wie auch mit der Gesetzgebung zu diesem Themenbereich intensiver beschäftigen. Wenn ich Zufriedenheit als Orientierung wähle, dann ist diese in meinem Weltbild verankert, in dem die Verortung des Menschen ein übergeordneter Wert ist. Wenn mir die Orientierung des Grundgesetzes an der unantastbaren Würde des Menschen in seiner Bedeutung aufgegangen ist, dann werde ich diese Einsicht philosophisch und religiös vertiefen. Ich kann mich auch in Wertdimensionen verankern, die mehr meiner eigenen Person eine Perspektive geben, z.B. beruflicher Erfolg oder religiös gesehen, dass ich "in den Himmel" komme. Dieser Himmel kann den transzendenten Himmel bedeuten oder den hier gebauten, ob im Barock das Schloss oder heute das Anwesen mit SUV und Segelyacht.
Auch die Philosophie ist gewählt
Wenn Werte in jeder Entscheidung mit gewählt werden, dann wähle ich immer auch eine Weltsicht, in der diese Werte funktionieren. Das wird beim Wert "Gerechtigkeit" deutlich. Obwohl diese empirisch nie als erreicht erwiesen werden kann, bietet sie wohl die zentrale Leitidee, an der sich nicht nur die Politik, sondern auch Vorgesetzte und Eltern orientieren können, denn wem Einfluss und Bestimmungsmacht gegeben sind, wird seine Entscheidungen auch an einer Leitidee orientieren. Eine andere Leitidee, die täglich relevant ist, betrifft den einzelnen Menschen. Was soll mein Leben bestimmen, die optimale Versorgung, sich etwas leisten können, beruflicher Erfolg, oder dass ich mehr zu gerechten Verhältnissen beitrage. Die Corona-Pandemie mit ihren Quarantänemaßnahmen hat diese Wertdimensionen deutlicher hervortreten lassen, die immer schon die Entscheidungen der einzelnen gelenkt haben, je nachdem, welche übergeordneten Werte jemand für sich als leitend ausgewählt hat. Ob es den Kirchen in diesen Jahren gelingt, ihre Wertdimension ins Gespräch zu bringen, darf bezweifelt werden. Es hat in keiner Generation genügt, Gottesdienste zu feiern. Es musste immer auch im Bewusstsein der Kirchgänger verankert sein, welche Dimension durch die rituelle Praxis begangen wird.
Die Philosophie bietet inzwischen so verschiedene Entwürfe an, die jeweils an unterschiedlichen übergeordneten Werten angedocken, dass auch hier wie bei der Berufswahl Entscheidung notwendig ist, welchem Entwurf man für das eigene Leben als tragend einschätzt.
Die Leugnung Gottes nicht mehr für die Freiheit essentiell
Eine Frontstellung der kämpfenden Freiheit kann heute anders gesehen werden. Es schien den Freiheitskämpfern und Revolutionären notwendig, die Religion nicht nur in ihrer verfassten Kirchlichkeit, sondern auch als Idee zurückzudrängen. Die politische Freiheitsidee, die im 19. Jahrhundert eine politische Gestaltungskraft wurde, hat nicht verhindert, dass im 20. Jahrhunderts Diktaturen entstanden sind. Faschismus und Kommunismus haben gezeigt, dass der Mensch letztlich die Freiheit nicht garantieren kann. Wenn er selbst die Freiheit nicht gemacht hat, sondern sie woanders herkommt, dann sollte weder metaphysisches Denken noch Religion als Ressource für eine gelebte Freiheitspraxis ausgeklammert werden. Oder muss der Mensch annehmen, Gott hätte ihn mit der Freiheit begabt, um sie dem Menschen dann wieder stückweise zu nehmen, indem er z.B. 70 Jahre Leninismus zulässt?
Links:
Wie die Freiheit vom Menschen verlangt, für sein eigenes Leben Entscheidungen zu treffen, so beinhaltet die Freihat auch die Wahlmöglichkeiten, sein Verhältnis zur ihn umgebenden Wirklichkeit zu bestimmen. Will der einzelne eigenständig sein, muss er dieses Verhältnis bewusst bestimmen. Dazu der Beitrag von Jutta Mügge: Spiritualität – mein Verhältnis zur Wirklichkeit
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