Foto: hinsehen.net E.B.

Alt gewordenes Gehirn - alt gewordene Philosophie

Nicht nur Gehirne werden alt, auch philosophische Entwürfe haben einen Lebenszyklus und dann sind sie verbraucht. Der Materialismus, der mal die Naturwissenschaften auf den Weg geschickt hat, ist für Umweltkrise, das Aushungern der vielen Kriege, einen neuen Bildungselan zu lahm geworden. Wie kommen wir zu einer neuen Philosophie, die die Fundamente legt, damit wir aus den ungelösten Problemen in eine lebenswertere Zukunft geleitet werden.

Im Moment wird auf den meisten Lehrstühlen der Naturalismus vertrete, ein Materialismus, der sich vorgenommen hat, alles aus der Materie zu erklären. Für die Herausforderungen der Gegenwart bleibt diese Philosophie seltsam stumm. Die Philosophie soll Grundlagen für das Handeln legen. Es muss dringend gehandelt werden. Tausende Hektar Wälder brennen, die Flüchtlingszahlen steigen weiter, die Finanzmärkte sind so labil, dass sie die Wirtschaftskreisläufe mehr gefährden als die Natur in Form eines Virus. Die von den Philosophen ab dem 16. Jahrhundert eingeleitete Erforschung der Materie hat nicht nur unsere Kenntnis der Naturvorgänge enorm erweitert. Sie hat uns in ein Verhältnis zur Natur gesetzt, welches den Menschen zum größten Feind der anderen Lebewesen gemacht und ihm selbst die Zukunft versperrt hat, wenn er nicht das Artensterben und den Kohlendioxydausstoß stoppt. Es war ein vielsprechendes Projekt. Die Neuzeit konnte ausgerufen werden. Weil immer neue Erkenntnisse erzielt und in Technik und Medizin umgesetzt wurden, konnte sich jeder vom Erfolg dieses Projektes überzeugen. Der Mensch konnte stolz auf sich sein und seine Freiheit ganz neu erleben.

Kein „Meta“ der Physik war mehr notwendig

Materialismus heißt ja, die Materie zu untersuchen, ohne von einer jenseitigen Instanz Erkenntnishilfe zu erwarten. Allein der Mensch mit seinen Verstandeskräften kann sich eine Welt bauen, in der er nicht nur überleben, sondern sich als Mensch voll verwirklichen kann. Für Westeuropa brauchte es auch deshalb eine Alternative, weil die Religion durch die Konfessionskriege jedwedes Vertrauen verloren hatte. Die Philosophen wie Kant und Locke haben dem Denken und Forschen neue Türen geöffnet. Sie haben auch die Ideen für einen entsprechenden Umbau der Gesellschaft bereitgestellt. Denn nicht nur die Kirchen, auch die Adeligen, die alle politischen Positionen besetzt hatten, stellten sich den anstehenden Entwicklungen entgegen. Die Adelsherrschaft wurde durch etwas Besseres ersetzt, den Parlamentarismus. An die Stelle der Theologie trat die Philosophie als Erste Wissenschaft. Die Ideen, die schon ab dem Späten Mittelalter gedacht wurden, haben die Welt verändert. Jetzt leben wir in einer von der Technik gestalteten Welt, haben eine Medizin, die anders als zu Zeiten der Pest handlungsfähig ist und werden von Ministern regiert, die aus Wahlen hervorgegangen sind. Aber wir spüren, dass sich etwas ändern muss. Warum gibt es, anders als in früheren Epochen, keine Denkmodelle, um mit den heutigen Herausforderungen fertig zu werden? Es sind vor allem zwei Bereiche, die durch den Materialismus selbst so geworden sind, dass sie heute die gesamte Menschheit vor riesige Probleme stellen. 

Die Umweltkrise

Der materialistische Ansatz hat die jetzige Umweltkrise mit verursacht. Weil materieller Wohlstand Energie und Rohstoffe braucht, gibt es zu viel Kohlendioxyd und zuendegehende Rohstoffvorräte. Weil Fortschritt nach einer materialistischen Philosophie sich notwendig im Materiellen ausdrücken muss, verbraucht die technische Zivilisation Rohstoffe, die wir treffend "Naturschätze" nennen. Der Verbrauch ist deshalb so günstig, weil für Kohle, Erdöl und Erdgas nichts an die Natur gezahlt werden muss. Es entstehen nur die Kosten für den Abbau bzw. für die Gewinnung. Aber gehören Kohle, Öl u.a. Rohstoffe nicht den Generationen, die noch nicht geboren wurden? Die Überbelastung der Umwelt geht nicht allein auf das Konto der Industrie, sondern wird durch kapitalistischen Wirtschaftssystem erst zementiert. Denn hier zählt „preisgünstig“, um hohe Gewinne zu generieren. Ingenieure können noch langfristig denken, Finanzleute müssen jedes Quartal eine Gewinnsteigerung sehen. Diesem Kapitalismus legt die materialistische Philosophie "keine Zügel an".

Das Finanzsystem ist der Hauptgefahrenherd

Der Materialismus hat nicht nur die Naturwissenschaften zu immer größeren Erkenntnisfortschritten bewegt, sondern ein Wirtschaftssystem geschaffen, das die Ergebnisse der Wissenschaft in Wohlstand für Viele verwandelt. In diesem System gibt es nicht nur Ingenieure, die die Dampfmaschine oder den Computer entwickelt, die Elektrizität und Erdöl als Energiequelle erschlossen haben, sondern auch das von den toscanischen Banken im 13. Jahrhundert entwickelte Geld- und Versicherungssystem. Dieses System ist nach dem Ende des Sowjetsystems und dem Eintritt Chinas in den Welthandel zur bestimmenden Größe geworden. Dieses Finanzsystem hat schon mehrfach die Wirtschaft zum Zusammenbruch geführt. Nicht nur mit dem Börsencrash 1929 wurden auch die politischen Systeme destabilisiert. 

Der Materialismus ist unfähig für Alternativen

Die herrschende Philosophie, die von den Lehrstühlen der Universitäten verwaltet wird, kann aus sich heraus keine Denkansätze entwickeln, die so neu sind, dass sie nicht nur an Symptomen herumdoktert, sondern einen zukunftsfähigen Entwurf vorlegen. Ein solcher Entwurf ist notwendig, denn weiterführende Entscheidungen brauchen ein tragfähiges Fundament. Dafür, dass gegen Corvid-19 ein Impfstoff gefunden, jeder auf den Malediven Urlaub machen und in einem SUV durch die engen Straßen eines Stadtzentrums fahren kann, liefert der Naturalismus die Grundlagen. Aber damit die Menschen dem Umstieg in ein ökologisches Lebenskonzept und in ein Wirtschaftssystem, das mehr Lebensqualität verspricht, trauen können, braucht es mehr als die Moral, mit der die Öko-Bewegung ihre Mitbürger traktiert.
Ein Rückblick zeigt, was einmal entworfen wurde: Der Parlamentarismus im 18. Jahrhundert, die Europabewegung nach den beiden Weltkriegen, die immer neuen Aufbrüche in eine durch Bildung befreite Gesellschaft waren attraktive Zukunftsmodelle. Kann der Naturalismus ein solches Modell bereitstellen, das den Menschen das Vertrauen gibt, in ein anderes Lebensmodell umzusteigen, also einen totalen Umbau der Wirtschaft, eine Neuausrichtung des Bildungssystems, eine andere Rolle des Staates zu wagen. Denn was tauscht jemand ein, der als nächstes Automodell keinen SUV mehr anschafft? Ein gutes Gefühl reicht nicht.

Freiheit neu entwerfen

Wenn der Mensch der einzige Bestimmer geworden ist, von dem es abhängt, wie es mit der Erde weitergeht, dann steht seine Gestaltungskraft im Mittelpunkt. Er kann den Planeten wie ein Schiff auf unterschiedliche Ziele hinlenken. Er kann Pflanzen und Tieren Lebensraum zugestehen. Er entscheidet, wie er mit den Naturschätzen, den Rohstoffen und Energieträgern umgeht. Er ist also mit seinem zentralen Vermögen, seiner Entscheidungsfähigkeit und damit seiner Freiheit gefragt. Eine nachmaterialistische Philosophie muss die Möglichkeiten der Freiheit ausloten, die Freiheit so zu sich selbst bringen, damit sie sich traut zu entscheiden. Vielleicht ist das erste, was eine neue Philosophie leisten muss, das Bewusstsein von Freiheit neu zu vermitteln. Die Übermacht der technischen Systeme macht nicht nur ihre Nutzer zu Objekten einer Totalüberwachung, sie zwingt sie zum Gebrauch einiger weniger Anbieter und vermittelt dann noch das Gefühl, dass es anders nicht geht. Postfaktisch wird dieser Zustand bezeichnet. Damit wird der Klimakollaps "alternativlos". 

Eine Philosophie der Freiheit beginnt nicht beim Punkt Null. Sie wird im Grundgesetz als das zentrale Fundament der Menschenwürde eingeführt. Sie ist in die Freiheitsrechte ausbuchstabiert. Die Psychologie hat den Zusammenhang von Motivation und Freiheit erforscht. Schriftsteller und Drehbuchautorinnen haben Freiheitsentwürfe durchgespielt. Die Hirnforschung könnte zwar keine Gehirnregion ausmachen, in der sich die Freiheit lokalisieren ließe, aber sie hat bereits wichtige Erkenntnisse gewonnen, die das Verständnis erweitern, wie Neuronen Freiheit ermöglichen. 

Die Physik verlangt eine neue Philosophie

Es gibt eine weitere Notwendigkeit, welche die Ausgangsbedingungen für eine postmaterielle Philosophie konkretisieren. Es ist vor allem die Physik, die im 20. Jahrhundert das Weltbild, das dem Naturalismus zugrunde liegt, aufgelöst hat. Logisch muss nämlich eine Philosophie, die sich von der Materie Auskunft über das Menschsein verspricht, diese Materie als letzten Grund annehmen. Seit die Allgemeinde Relativitätstheorie zum Urknall hin führte, hat nicht nur die Materie einen Anfang, sondern auch die Zeit selbst.
Die Freiheit muss daher nicht mehr für die Erforschung der Natur in Anspruch genommen werden, auch nicht für die Aufhebung der Zunftordnungen, sie muss dem Unternehmertum nicht neue Freiräume eröffnen, und auch nicht die Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit, Religionsfreiheit erkämpfen, sondern es geht um die Freiheit, mit der Mensch die Zukunft aller Lebewesen bestimmt. 
Diese Perspektive bietet sich jungen Philosophen und Philosophinnen, den angrenzenden Wissenschaften, den Akademien und den Medien. Viele Vorarbeiten sind bereits geleistet. Wir, ein Zusammenschluss von Autoren, werfen den Stein ins Wasser. Und eröffnen für Dissertationen, Verlagsprojekte, Tagungen und Seminarreihen neue Räume. Und muss die Reisebranche die Menschen nur zu den Pyramiden und Kathedralen bringen oder nicht auch zu neuen Zielen, zum Cern nach Genf, zu neuer Landwirtschaft, neuen Bildungsprogramamenorten.

Über Facebook ist es immer noch am einfachsten, Kommunikation aufzubauen. Die, die den Gedanken auch schon betreiben, treffen ab 12.7.20 hier Mitstreiter:   Gruppe  post-materialistisch


Kategorie: Analysiert

Kommentare (0)

Keine Kommentare gefunden!

Neuen Kommentar schreiben

Zum Seitenanfang