Lubjanka-schönes Gebäude, aber nur Fassade, Sitz des Inlandsgeheimdienstes, Foto: hinsehen.net E.B.

Ukraine: Glücksfall für Europa, umgekehrt kaum

Wenn die Annexion nach den Plänen Putins gelaufen wäre, würden sich Salvini, Le Pen, Alice Weidel und andere Putin-Verehrer bestätigt fühlen. Die Ukrainer verhindern das. Aber warum können die Werte, auf denen die Ukrainer wie wir unseren Staat aufbauen, militärisch außer Kraft gesetzt werden? Warum ist es Europa nicht gelungen, die Russen die mehrheitlich hinter der Invasion stehen, für diese Werte zu gewinnen. Gewissenserforschung Nr.1

Es geht in dem Krieg nicht um Ölquellen, sondern um die Lebensform, die durch Institutionen Parlament, unabhängige Gerichte, Pressefreiheit, ein Bildungssystem ihre Umsetzung finden. Die Ukrainer wollen in diesem, von Werten bestimmten Raum leben. Wir tun das wie selbstverständlich, aber nicht die Russen. Diese sind nicht nur davon überzeugt, dass die Ukraine wie die Krim Russlands heiliger Boden ist. Sie fühlen sich auch dem europäischen Wertesystem überlegen. Ihr Patriarch Kyrill Kyrill hat in seiner Sonntagspredigt in Moskau den „Ausbruch von Feindseligkeiten“ als Reaktion auf „Versuche“ dargestellt, „das zu zerstören, was im Donbass existiert“. Dort, im russisch besetzten Südosten der Ukraine, lehnten die Menschen die „sogenannten Werte" ab, die der Westen anbiete. Damit meine er unter anderem „die Welt des übermäßigen Konsums“ und der Schwulenparaden, präzisierte der russisch-orthodoxe Patriarch. Gläubige im Donbass leisteten aus Treue zur Kirche Widerstand gegen Gay-Pride-Paraden und würden dafür „gewaltsam unterdrückt“. Acht Jahre lang habe „die ganze Welt“ zur „Unterdrückung und Vernichtung von Menschen im Donbass“ geschwiegen, so Kyrill.“ Zitiert nach Radio Vatikan vom 7.3.2022

Wir setzen nur auf den Ausbau der wirtschaftlichen Beziehungen, nicht auf die geistige Auseinandersetzung

Es ist nicht nur im Verständnis der Ukrainer, sondern auch der Russen eine geistige Auseinandersetzung. Machen wir denselben Fehler wie die Russen mit ihrem religiösen Oberhaupt, der Metaphysik mit Waffen Nachdruck zu verleihen? Haben wir unsere Werte auch mit den falschen Mitteln verbreiten wollen? Bis zum 24. Feburar war nicht nur die Ampelkoalition überzeugt, dass die europäische Friedensordnung und das sie stützende Wertgefüge einen Krieg unmöglich machen. Ehe der Krieg militärisch wurde, war er ein Krieg über Weltanschauungen. Mit der Weltanschauung von Putin, Kyrill, den Querdenkern dort haben wir die Russen alleine gelassen. Wie die Russen mit ihren Panzern die Ukrainer nicht von der moralischen Überlegenheit überzeugen werden, so ist es der EU nicht gelungen, die Russen von der westlichen Lebensform zu überzeugen. Es ist der Kampf um das verlorengegangen, was in den Köpfen vorgeht. Das ist offensichtlich ein medialer Kampf, ablesbar an den Russlanddeutschen, die vor 30 Jahren in die Bundesrepublik gekommen sind. Diese sind wohl mehrheitlich für den Krieg gegen die Ukraine. Sie haben die Rechtfertigung für den Angriff übernommen, nämlich dass Russland seine Bevölkerung und die der Ukraine von der Bedrohung durch die NATO zuvorkommen muss. Ihre Fernsehnutzung scheint dafür entscheidend zu sein. Sie verfolgen weiter die russischen Sender. Es ist keine wirtschaftliche, sondern eine kulturell-mediale Niederlage des Westens, dass dieser Krieg von der Mehrheit der Russen als notwendig angesehen wird, um nicht wie die Ukraine unter westlichen Einfluss zu geraten.

Warum müssen die Ukrainer für unsere Werte sterben

Wir müssen uns eingestehen: Ohne den Widerstand der Ukrainer und die Medienpräsenz ihres Präsidenten hätten sich die Menschen in Europa nicht so öffentlichkeitswirksam gegen diesen Krieg gestellt. Es sind die Ukrainer, nicht wir, die uns klargemacht haben, dass es nicht um Gas- und Öllieferungen geht, sondern um die Grundlagen des Zusammenlebens. Unsere zögernden Politiker mussten die Sanktionsmaßnahmen nachbessern, um der Ukraine entschiedener zu helfen, auch mit Panzer- und Luftabwehrraketen. Weil man davon ausging, dass die wirtschaftlichen Verflechtungen genügen, um das weltanschauliche Konfliktpotential im Zaum zu halten, konnte man von dem Einsatz militärischer Mittel so überrascht werden. Dabei hatten die Geheimdienste früh genug ihre Regierungen informiert, dass ein Einmarsch in die Ukraine bevorsteht. Die Ukrainer wussten es mehrheitlich und waren vorbereitet.

Wirtschaft verändert nicht die Köpfe

Die genseitige Abhängigkeit zwischen dem Lieferanten von Rohstoffen und dem, der dafür Technologie liefert, schien eigentlich für beide Seiten gewichtig genug, um einen Krieg zu verhindern. Das zeigt zumindest Deutschland, das weiter für russisches Gas und Erdöl zahlt. Was vom Westen als Friedensgarantie eingeschätzt wurde, erlaubte Putin den Krieg zu beginnen, denn gerade die Abhängigkeit Deutschlands von russischen Lieferungen schien für ihn das Risiko kalkulierbar zu machen, nämlich dass Russland die Sanktionen verkraftet. Hier liegt genau das Problem, welches den Krieg ermöglicht. Europa und nicht zuletzt Deutschland hat auf Wirtschaft gesetzt. Das schein genug, es gab keine entschiedene Strategie, das europäische Verfassungsmodell zu exportieren, so dass die russische Bevölkerung den Krieg unmöglich gemacht hätte. Vielmehr hat man zugesehen, wie sich Russland nach der Jahrtausendwende immer mehr zu einer Diktatur entwickelte. Man hat versucht, Putin einzubinden und ihn damit noch wichtiger gemacht. Nicht erst im Nachhinein stellt sich die Strategie als fatal heraus. Man hätte vorher abschätzen müssen, dass man einen Autokraten auch im eigenen Land stärkt, wenn man ihn so umwirbt. Merkel hat viel erreicht, sie hat aber gerade nicht verhindert, dass Deutschland um das Wohlwollen des Autokraten buhlen musste, damit er nicht sein Militär zum wiederholten Mal gegen die Ukraine in Bewegung setzt. Indem sie Deutschland in die Falle rutschen ließ, hat sie Deutschland vom Wohlwollen des russischen Autokraten abhängig gemacht. Wie der Westen von sich selbst überrascht ist, zu solch durchgreifenden Sanktionen fähig zu sein, dürfte auch Putin in einer anderen Welt aufgewacht sein. Er hat doch ständig erlebt, dass der Westen ihn hofierte, wenn er mit seinem Militär drohte. Mit der Gleichschaltung der Medien kann er seine Bevölkerung direkt erreichen und es wird nur sein Weltbild vorgestellt. Das war seit Jahren zu beobachten, ohne dass die absehbaren Folgen die westliche Strategie bestimmten. Der Puffer einer gebildeten, an Werten orientierten Unternehmerschaft, von Leher:innen, Richtern, Publizisten wurde immer mehr zurückgedrängt. Der Westen entwickelte kein Gegenstrategie, als die Nicht-Regierungs-Organisationen ausgeschaltet wurden. Zwar mussten und müssen Merkel und Scholz mit Putin im Gespräch bleiben, eine wirksame Strategie, den Boden für eine Militarisierung der geistigen Auseinandersetzung auszutrocknen, braucht eine zweite Ebene.

Europa wollte mit Technik eine geistige Auseinandersetzung gewinnen

Europa hat seine Technologie exportiert, aber nicht seine Philosophie, seine Jurisprudenz, noch seine Pädagogik. Das erreicht man nicht mit Büchern alleine, es braucht möglichst viele Treffen und Einladungen in die EU. Wo haben russische Historiker an deutschen Universitäten doziert und umgekehrt? Hat man sich seitens Deutschland bemüht, die Geschichte beider Länder gemeinsam aufzuarbeiten? Gab es einen respektablen Schüleraustausch und Kooperationen von Theatern und Orchestern. Das gab es als Versuch, ohne dass die Kulturschaffenden die Politik veranlasst hätten, Kultur nicht nur zu fördern, sondern für eine tiefergehende Verständigung einzusetzen. Hatten die Kulturschaffenden, die Lehrerkollegien, die Rechtsanwaltskammern überhaupt das Selbstbewusstsein, dass sie den jungen Russen etwas zu bieten haben, was sie in ihrem Land nicht bekommen können.  

Auch wenn viel versäumt wurde, der Kampf um die Köpfe muss geführt werden

Das ist Europa den gefallenen Ukrainern und Ukrainerinnen schuldig: Endlich den Ost-West-Konflikt nicht als ein wirtschaftlich lösbares Problem zu sehen, sondern als Wettstreit um das bessere Konzept, eine Gesellschaft und ihren Staat zu organisieren. Erst dann können sich die Russen für Parlamentarismus, Rechtssicherheit, Bildungsmöglichkeiten im Ausland, für freie Berichterstattung, für Philosophie, Theater und Literatur entscheiden. Diese Entscheidung hat nur ein verschwindend kleiner Teil der russischen Bevölkerung getroffen. Und gehen wir auf die jungen Menschen in Russland zu. Die Jüngeren, die weiter in die Zukunft blicken als Putin und seine Generäle, fürchten, dass ihnen nicht nur vom Regime, sondern auch von Europa der Zugang zu Auslandsstudien und zu Begegnungen verschlossen wird. Wenn Europa auch die nachwachsenden Generationen Russlands nicht erreicht, dann wächst die Kriegsgefahr weiter.

Die Kultur muss sich aus der Abhängigkeit von der Politik befreien

Die Überlegungen müssen weitergeführt werden. Dass Wirtschaftsbeziehungen nicht automatisch die Voraussetzungen für Parlamentarismus und Rechtsstaatlichkeit schaffen, zeigt auch China. Europa muss sich entscheiden, ob es wieder auf seine Kultur setzt, um sich zu behaupten. Der kulturelle Transfer ist auch deshalb unabdingbar, damit nicht immer mehr Flüchtlingen nach Europa strömen, anstatt die Lebensbedingungen in ihren Ländern so zu gestlaten, dass die Würde jedes einzelnen der Maßstab wird.
Die islamisch regierten Länder mit ihren Dauerkonflikten werden sich auf der Tagesordnung zurückmelden. Auch sie, das mussten die USA erfahren, können nicht militärisch für Rechtssicherheit, Parlamentarismus, Gewaltenteilung gewonnen werden. Um Europa als kultureller Größe wieder mehr Gewicht zu verschaffen, muss die Gewissenserforschung mit der Frage fortgesetzt werden, was uns hindert, wirkungsvoller unsere Wertvorstellungen zu vermitteln. Nicht nur die Bundeswehr, noch mehr die Kultur muss ihren Platz einnehmen. Das muss sie selbst hinbekommen und darf nicht weiter ihre Position vom Geld abhängig machen, das ihr die Politik zugesteht. Nicht die Politik soll die Kultur bestimmen, sondern die Kultur die Politik, denn wenn sie das in Deutschland nicht hinbekommt, wie will sie die Russen überzeugen. Das ist zuerst eine Frage der Selbstbestimmung. Die Kultur, ob Universitäten, Schulen, Finanzämter, Gerichte uva. müssen erklären, welche Beitrag sie zur Wertschöpfung eines demokratischen Staates beisteuern.
Die Sprachlosigkeit der Philosophie macht das Defizit deutlich. Die Philosophie war gestaltend präsent, als die USA und Frankreich ihre Verfassungen konzipierten. Kriege entstehen erst, wenn die Werte des Zusammenlebens verloren gegangen sind. Dann kann man auch Kindergärten und Krankenhäuser bombardieren.

Die mangelnde Überzeugungskraft der Kultur macht Jutta Mügge an der Wohlstandsorientierung deutlich. Hier zum Beitrag Wertschöpfung durch Kultur
Mit welchen Vorstellungen junge Ukrainer:innen auf den Sieg ihrer Kämpfer setzen, beschriebt Maria Karapata:  Kiew: Aufwachen und es ist Krieg
zur Ukraine und den gesellschaftlichen Entwicklungen: Ukraine: eine Nation baut ihren Staat


Kategorie: Verstehen

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