Müde vom Leben
Aus meiner ehrenamtlichen Tätigkeit als Notfallseelsorgerin, wie aus eigenen Erfahrungen mit zwei Brüdern, ist Lebensmüdigkeit im Alter nicht selten. Manche Menschen im hohen Alter neigen dazu, wenn der Partner oder die Partnerin verstirbt oder wenn sie schwer krank werden, einen Schlussstrich unter ihr Leben zu ziehen. Die Gedanken, sich selbst aus dem Leben zu nehmen, die Mühen und Herausforderungen des Alltags abzuwerfen, sich auch von psychischen oder physischen Schmerzen zu befreien, die Einsamkeit zu überwinden, die Trauer abzuschütteln, kann sich dann schleichend in der Seele einnisten und verfestigen. Dieser Samen sucht sich dann immer wieder neue Bestätigung, wenn die Tage wieder mal nichts Gutes vorhalten. Das kann Wochen, Monate und Jahre so gehen, in der die Entscheidung der Selbsttötung im Innern wächst. Von außen ist nicht direkt erkennbar, was sich in der Seele zusammenbraut. Irgendwann passiert es dann.
Tunnelblick
Es gibt sicher keine letztendlichen Gründe und Rezepte, die auf alle passen, die mit quälenden Suizidgedanken unterwegs sind, und dennoch scheint es wichtig zu sein, besonders auf das soziale Umfeld zu schauen. Wenn sich jemand aus dem Leben verabschiedet, ist das kein individueller Schritt, er betrifft auch andere. Diese reagieren häufig mit Selbstvorwürfen wie auch mit Vorhaltungen in Richtung des Menschen, der nicht mehr da ist. Er hatte sich in seinen Gedanken und Gefühlen wie in einem Gefängnis eingesperrt, für das er den Türschlüssel verloren hatte.
Wenn ich Menschen zu betreuen hatte, die gerade jemanden durch Suizid verloren hatten, wurde ich oft mit Selbstvorwürfen der Angehörigen konfrontiert. Sie luden sich Schuld auf, weil es oft nicht klar war, weshalb dieser Mensch sich das Leben genommen hatte. Da gab es viele Fragen: Was habe ich unterlassen? Wäre er noch am Leben, wenn ……? Was hat ihn dazu getrieben? Ich hätte das verhindern müssen!
Quälende Auseinandersetzungen mit dem eigenen Verhalten. Da war erst einmal nicht der Verlust im Vordergrund, sondern die Vorwürfe an sich selbst. Meine wichtigste Aufgabe in der Begleitung war dann, mit den Betroffenen dorthin zu schauen, wo die Verantwortlichkeiten liegen. Ihnen Klarheit und Entlastung zu ermöglichen, damit die Trauer aufkommen darf.
Trauma hinterlassen
Diejenigen, die Suizid begehen, können sich meist nicht vorstellen, welche Schäden sie in der Psyche anderer Menschen anrichten, welche schweren Lasten sie auf die Menschen legen. Sie sehen nur ihr eigenes Ziel vor sich. Dass aber nahe Angehörige und auch Fremde, der Lokomotivführer, Spaziergänger im Wald, Polizisten, Feuerwehrleute, Sanitäter, diese Bilder oft nicht mehr loswerden, oder therapeutische Begleitung brauchen, damit sie das Trauma überwinden, darüber denken die Menschen mit Suizidabsichten nicht nach.
Von anderen Kulturen lernen
Suizid ist in den letzten Jahren angewachsen, nicht nur bei älteren Menschen, sondern auch bei jungen. Da spielen sicher mehrere Faktoren eine Rolle, wie Depressionen, genetische Vorbedingungen etc. Die soziale Komponente ist jedoch nicht zu unterschätzen. Sie ist der Faktor, den ich aufgreifen möchte.
Interessant ist für mich die Erfahrung aus einem Gespräch mit einem afrikanischen Priester aus dem Kongo, der meine Frage, ob Suizid in Afrika auch so häufig vorkommt wie in Deutschland, mit Nein beantwortete. In Afrika sichern die Familien vor allem ihre Alten vor Einsamkeit. Sie leben im Verbund mit den Kindern und Enkelkindern. Diese Lebensform, die es meist bei uns nur noch auf Bauernhöfen oder in Großfamilien, wo mehrere Generationen zusammenleben können, möglich ist, scheint den Einzelnen vor Suizidgedanken zu bewahren. Sie fühlen sich noch gebraucht. Afrikaner verstehen sich als Teil einer Gemeinschaft, zu der sie gehören. Hier haben sie auch immer einen Platz. Solange der Einzelne sich zugehörig fühlen kann und Achtung für seine Person erfährt, die Beziehungen offen gestaltet werden, scheint der Gedanke an Suizid weniger aufzukommen.
Ungeklärte Konflikte
Manchmal liegen die Wurzeln in Problemen, Konflikten und Störungen, die sich in Systemen wie Arbeitsplatz oder Familie anhäufen. Diese werden nicht ernst genug genommen und schon gar nicht angesprochen und bearbeitet.
Bleiben sie ohne Klärung unter dem Teppich, wabern sie im Versteck weiter wie Eitergeschwüre. Die Systemik beschreibt das sehr eindrücklich, wie Ungeklärtes in Familien, an Arbeitsplätzen, in Gemeinschaften sich ausbreitet, um sich an Einzelnen zu manifestieren. Oft ist es dann zu spät um die Katastrophe abzuwenden, dann nämlich hat das Leben, das zur Last wird, in die innere Kapitulation geführt.
Soziales Netz
Verlässliche soziale Kontakte, vertrauliche Gespräche, Zuwendung, gute verbindliche Beziehungen, in denen offen und verständnisvoll, am besten auch ohne Bewertungen über Sorgen und die inneren meist schmerzhaften Bewegungen gesprochen werden kann, helfen uns dabei, Vertrauen in das Leben und die anderen Menschen zu setzen.
Rilke hat etwas sehr Eindrucksvolles geschrieben: sich dem Schweren zuwenden, in die Tiefen dieser Gefühle einsteigen, um dort das Glück zu finden. Das klingt paradox. Wie kann sich da, wo Trauer, Wut, Schmerz und Angst sich niedergelassen haben, etwas Gutes verwirklichen?
Meine Überlegungen dazu sind vielleicht zu einfach, aber ich will sie nicht zurückhalten. Alles was Zuwendung, Aufmerksamkeit erhält, ernst genommen, angeschaut und beim Namen genannt wird, erfährt Beachtung und ermöglicht das Gefühl der Zugehörigkeit. Unter diesen existentiellen Bedingungen kann ich als Mensch gedeihen, kann ich sogar gesunden. Wir beobachten dies auch bei Pflanzen, die besser wachsen, wenn sie berührt werden und mit denen wir im Gespräch bleiben. Diese Grundbedingungen, von anderen gesehen und ernst genommen zu werden, dazu zu gehören, sie sind es, die mir einen Platz in der Gemeinschaft sichern. Ich möchte das auch auf die inneren Bewegungen ausweiten. Wenn ich meine inneren Verletzungen, meine Trauer, meine Wut, meine Ausgrenzung, meine Defizite, meine Verluste, meine Ängste gezielt anschaue, sie beim Namen nenne und als einen Teil meiner selbst betrachte, sie durch mich Aufmerksamkeit und Beachtung finden, können sie sich beruhigen. Sie werden nicht einfach weggehen, aber sie haben mich nicht mehr so im Griff, sondern ich kann mit ein wenig Distanz auf diese Anteile meiner Person blicken, sie in mir integrieren, indem ich sie als real wahrnehme. Sie verlieren damit ihre Kraft. Sie ziehen mich nicht mehr so nach unten. Dabei können mir nahestehende Menschen helfen.
Mein Anteil
Ich muss allerdings hinschauen wollen. Das ist nicht einfach, denn es fällt viel leichter, unangenehme Dinge vor mir her zu schieben. Ich brauche Mut, um mich diesen Anteilen meiner Person zu stellen. Da gibt es auch Scham und Angst, denn unsere Kultur ist eher auf Erfolgreiches, Starkes, auf Gewinnen ausgerichtet als auf unsere Schwächen. Wo kann ich mit meinen Defiziten bleiben? - doch nur bei guten Freunden oder denen, die mit meinem sensiblen Inneren wohlwollend umgehen. Das spricht dafür, dass ich mich um gute Beziehungen bemühe, in denen ich die Wertschätzung meiner Person erlebe und auch in der Krise die Chance habe, aufgefangen zu werden. Das bedeutet jedoch, dass ich mich selbst auch bemühen muss, meine sozialen Kontakte zu pflegen.
Lebenssatt
Lebenssatte Menschen sind anziehend, strahlen Ausgeglichenheit aus, die wohltuend ist. Sie ruhen in ihrem Innern. Die Ruhe, die mir von solchen Menschen entgegenkommt ist keine Langeweile sondern eher Weisheit. Ich treffe in unserer hektischen Zeit auf wenig Menschen, bei denen mir diese Größe entgegenkommt. Es sind meist die ganz „Alten“, die viel erlebt haben, aus dem heraus sie schöpfen.
„Lebenssatt“ hört sich wohlgenährt mit Leben an. Wie geht das, sich lebenssatt zu fühlen? Seit ich mich entschieden habe, mich von altem Ballast zu befreien, beim Umzug nur noch das mitzunehmen, was mir wirklich wichtig ist, spüre ich mehr inneren Frieden. Dazu gehört nicht nur der Umzug in eine 50% kleinere Wohnung, sondern auch der Blick auf mein zurückliegendes Leben. Ich habe begonnen, meine Biographie zu schreiben, mit der ich nochmal intensiv in meine Vergangenheit eingestiegen bin. Mir ist sehr viel deutlich geworden und ich sehe heute, dass alle schwierigen Phasen, an denen ich manchmal verzweifelt bin, für mich da waren, um daran zu wachsen. Jede Herausforderung hat mich geradezu gezwungen, mich damit auseinanderzusetzen, mich ihr zu stellen, sie genau anzuschauen, nicht wegzulaufen noch sie zu ignorieren. Sie haben mich zu der Person werden lassen, die ich heute bin, mit allen guten und schwierigen Seiten. Ich bin froh, dass ich das so sehen kann, denn damit verlieren die Zeiten, die schwer erträglich waren, Zukunftsängste, die mich nicht schlafen ließen, manche Situationen, die mich existentiell gefordert haben, ihr negatives Vorzeichen. Ich kann sie vielleicht sogar als Unterstützung für meine Entwicklung sehen. Auch wenn ich auf FreundInnen schaue, wie sie kritische Lebensphasen gemeistert haben, erkenne ich enorme Entwicklungssprünge. Es scheint so, dass die Bewältigung schwerer Zeiten den Menschen reifer, weiser und umgänglicher macht. Wenn ich mit mir im Reinen bin, meine inneren Anteile kenne und akzeptiere, stellt sich wohl auch irgendwann die Sättigung ein. Ich muss nichts mehr müssen, kann dürfen und die letzten Jahre meines Lebens im Frieden und einer angemessenen Ruhe auf mich zukommen lassen.
Link: Suizid kann auch gewählt werden, um die eigene Würde zu retten. Da diese nicht von Menschen verlässlich garantiert werden kann, muss sie von anderswo herkommen:
Ich bin gewollt, nicht aus Zufall
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