Zurück in die Kindheit
In mir tauchen Bilder aus meiner Vergangenheit auf, die ich in Ruhe betrachten kann. Ich sehe mich als Kind im Wald spielen, versunken in die Beobachtung eines Hirschkäfers, meine Zeugnisse aus dem Gymnasium sehe ich vor mir, in denen fast immer in der Führungsnote stand: „Jutta stört den Unterricht durch Schwätzen“. War ich so vorlaut? Ich sehe die Kleinkinder in der Turnhalle, denen ich schon als 14-Jährige die Freude an einer Erlebniswelt beim Sport eröffnete und selber erste Leitungserfahrungen sammeln konnte. Viele, viele Erinnerungen kommen ans Licht. Erfolge und Misserfolge, Trauriges, Tröstliches aber auch Beschämendes schwimmen einfach ungefragt an die Oberfläche. Was mache ich damit?
Mich mit meinem Leben versöhnen
Ich kann diese Bilder ignorieren, aber sie melden sich ja, weil sie noch einmal angeschaut werden wollen. Vielleicht soll ich noch einmal in meine Vergangenheit eintauchen. Ich tue gut daran, sie nicht wegzuschieben, sondern sie hochkommen zu lassen und nachzuspüren, was sie mir mitzuteilen haben.
Es ist mein Leben, das ich noch einmal anschauen darf, um nachzuspüren, was alles gewesen ist, wie sich etwas entwickelt und gefügt hat. Was ich aus diesem Leben gemacht habe. Ich kann das, was gut gelaufen ist und mich zufrieden gemacht hat, noch einmal würdigen, mich über das freuen, was mir gelungen ist. Aber da gibt es auch die Ereignisse, auf die ich nicht so stolz bin, wo ich fahrlässig gehandelt habe, mir Begegnungen oder Beziehungen nicht gelungen sind. Habe ich dieses Scheitern achtlos übergangen, weil ich mich geschämt habe, oder weil ich es nicht sehen wollte, zu stolz war, es mir einzugestehen? Alle diese Erfahrungen, die guten wie die schlechten, haben meine Person geprägt, zu dem gemacht, die ich heute bin. Kann ich mich damit selbst gut annehmen? Kann ich Ja zu mir sagen, wie ich es gemacht habe? Kann ich die Erfolge als Zuspruch nehmen, ohne überheblich zu sein? Ist es mir möglich, auch den Blick auf Fehlschläge, auf meine Versäumnisse zuzulassen? Bekommen meine Misserfolge genügend Würdigung, indem ich sie als einen wichtigen Teil meines Lebens sehen kann? Sie waren es, aus denen ich das meiste gelernt habe.
Wenn ich alle diese Erfahrungen betrachte, sie kommen ja Gott sei Dank nicht immer alle auf einmal hoch, spüre ich, wie bunt und reich mein Leben war, ich kann die Höhepunkte in mir als Gewinn, als Zuspruch vermerken. Sie stärken mich in meiner Person. Wenn Misslungenes auftaucht, ich das schlechte Gewissen spüre, die Scham mich erwischt, habe ich nur die Chance, Ja zu sagen: „so hast du gehandelt, du konntest damals nicht anders, oder wusstest es nicht besser, oder warst zu eigensinnig.“ Ich suche nach Versöhnung mit meinem Versagen, denn ich kann es nicht rückgängig machen, aber ich kann meine Schwächen akzeptieren, würdigen indem ich mir das Scheitern genauer anschaue. Diese Schwachstellen gehören auch zu mir und meinem Leben. Überfällt mich Trauer über misslungene Beziehungen oder über den Verlust von Menschen, kommen auch schon mal Tränen, die noch nicht geweint sind oder die durchlebte Angst kehrt zurück. Drängen sich diese Gefühle sehr massiv in den Vordergrund, kann ich davon ausgehen, dass ich sie nicht genügend gewürdigt, zu schnell darüber hinweggegangen bin oder sie zu früh verdrängt habe. Kann ich sie jetzt noch einmal zulassen, mich noch einmal damit beschäftigen, sie nachempfinden? Es wäre gut, wenn ich ihnen einen Platz in meiner Seele zuweise, wo sie mit mir in Frieden alt werden können. Denn eines ist mir deutlich geworden: Alle Ereignisse, so klein oder so groß, so gewichtig oder flüchtig sie waren, machen mein Leben aus, bilden meine Person, haben meine Fähigkeiten geformt, die Grundstimmung meines Lebens beeinflusst. Ich bin die, die ich bin, erst durch diese Erfahrungen. Deshalb kann ich danken, auch für das, was mir nicht gelungen ist. Denn ich habe daraus lernen können.
Im Rückblick die Fähigkeiten erkennen
Jede Erfahrung in meinem Leben hinterlässt einen Fußabdruck, der mir neue Erkenntnisse ermöglicht hat, wenn ich sie mir genau anschaue. Misserfolge, Leid, gescheiterte Aktionen bleiben nicht ohne Wirkung. Sie hinterlassen starke Gefühle, die gelebt werden wollen. Gebe ich ihnen Raum, können sie sich ausleben und heilen. Mit Frustrationen umzugehen, stärkt meine Resilienz, die Fähigkeit Höhen und Tiefen zu ertragen, ohne abzustürzen. Im Alter taucht das häufiger auf, was nicht ausreichend bearbeitet ist. Das ist ein Signal, noch einmal gut hinzuschauen.
Fertig werden mit der Scham
Am schwierigsten sind die Erinnerungen, in denen die Scham sich meldet. Wer will dieses Gefühl noch einmal durchleben? Wenn es noch Personen gibt, mit denen ich in den Frieden kommen will, dann sollte ich mich überwinden, auf sie zuzugehen, um Versöhnung anzustreben. Stelle ich mich meiner Scham, stehe ich damit zu meiner Identität und Freiheit. Denn meine Würde verlangt es, dass ich auch zu meiner Schuld stehe, zu dem was durch mich nicht gelungen ist. Ich würde mich sonst selbst amputieren, etwas von meinem Leben lassen, das zu mir gehört. .
Je mehr ich von dem bearbeite, was liegen geblieben oder schlecht versorgt wurde, desto ruhiger kann ich auf mein Lebensende zugehen.
Nicht an die nächste Generation weitergeben
Muss ich eigentlich diese „Arbeit“ machen? Kann ich die alten „Geschichten“ nicht einfach mit ins Grab nehmen? Es ist natürlich meine freie Entscheidung, ob ich mich meinem Leben stellen will. Entscheide ich mich dafür, noch einmal die Ereignisse mit den damit verbundenen Gefühlen des Gelungenem aber auch des Scheiterns durchzuarbeiten, verhindere ich, dass Unerledigtes in die nächsten Generationen hinüberschwappt, denn alles, was im Verborgenen bleibt, was ich unversöhnt zurücklasse, wirkt in die nächste Generation weiter, denn es sucht sich einen Weg - im Familiensystem wie im gesellschaftlichen System. Dort wird es wie bei der stillen Post weitergegeben. Positive als auch negative Aufträge werden an die nächsten Generationen übertragen. Schuld, die ich aufgeladen und nicht verarbeitet habe, lade ich so auf „Unschuldige“, die dann die Konsequenzen tragen müssen. Jeder, der mit systemischen Aufstellungen Erfahrungen hat, wird das bestätigen können. Die „Stille Post“ wirkt nicht nur in Familien, sondern in Verbänden, Parteien, in Firmen, Kirchengemeinden und Ordensgemeinschaften.
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