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Telefonieren ist out

Jeder hat ein hochmodernes Smartphone, und gerade deshalb telefonieren viele Leute einfach nicht mehr gerne.

Das sieht dann so aus: Ein Kollege ruft an: Er will die gemeinsame Geschäftsreise buchen. Aber ich sitze im ICE und habe keinen Handyempfang, das WLAN ist überlastet, zu langsam für Skype oder WhatsApp-Call. SMS kommen nur verzögert beim Kollegen an, gehen wie Pingpong hin und her. Während ich eine tippe, ruft der Kollege an: „Hallo… hallo, hörst Du mich…, hallo?“, – und ist wieder weg. Mein Handymikrophon spinnt seit Monaten, wahrscheinlich hören wir uns auch deshalb nicht. Die Mailbox kann ich wegen der Unterbrechungen mehr schlecht als recht abhören: Der Kollege klingt immer ungeduldiger. Es ist frustrierend für uns beide. Endlich liest er meine Nachricht, dass ich im Zug sitze und mich nach Ankunft bei ihm melden werde.

Digitalwüste Deutschland, von einem Funkloch ins nächste

Warum kann man im Zug nicht telefonieren? Ich meine nun nicht ausführliche Telefonkonferenzen oder Lebensbeichten. Ab und zu muss man sich ja halbe Geschäfts- oder Beziehungsleben von Mitreisenden anhören – so einer will ich nicht sein. Interessant wäre zwar, mit welchem Anbieter diese Leute so guten Handy-Empfang haben. Aber: Dass ich mich so lange nicht um ein funktionierendes Mikrophon in meinem Handy gekümmert habe und dass die Funklöcher nicht geschlossen werden, hat mit psychologischen und kulturellen Veränderungen zu tun, die der Digitalisierung geschuldet sind.

Lieber telefonieren als mailen

Die Kommunikationsmuster haben sich durch die digitale Wende verändert. Mein Kollege ist eher noch von der „alten Schule“. Bevor er lange E-Mails oder Nachrichten schreibt, ruft er lieber an und spricht Dinge direkt ab. Ewiges E-Mail-Pingpong mit viel Missverständnis-Potenzial kann sich dadurch reduzieren. Andererseits vergisst man im Eifer mancher Wortgefechte natürlich hin und wieder einen wichtigen Aspekt und muss dann später per Mail nachliefern oder nochmal sprechen. Das kann auch frustrierend sein.
Viele, nicht nur junge Leute, nutzen vermehrt die WhatsApp-Sprachnachrichten. Eine Beobachtung, die das Phänomen illustriert, gelesen bei Twitter: Zwei Kids im Bus unterhalten sich: „Alter, es wäre voll praktisch, wenn man Sprachnachrichten auf WhatsApp schon hören könnte, während der andere sie noch spricht.“ – „Stimmt, dann könnte man direkt antworten!“ Man muss das richtig verstehen: Die „Kids“ wissen, dass ein herkömmliches Telefonat genau das leisten würde. Sie haben nicht vergessen, was ein Telefon ist. Aber sie wollen es nicht nutzen. Die Erwachsenen schicken auch häufig WhatsApp-(Sprach)-Nachrichten statt anzurufen. Es geht darum, den Zeitpunkt selbst zu bestimmen, wann man auf Nachrichten antwortet. Manchmal würde man eben gerne sofort reagieren, ein andermal möchte man sich eine Antwort aber länger überlegen, sich nicht sofort festlegen.

Telefon signalisiert Dringlichkeit

Mir geht es auch manchmal so: Wenn jemand unangekündigt anruft, denke ich: Der Anrufer hat ein dringendes Anliegen, will etwas, das nicht warten kann, eine unmittelbare Entscheidung. Das setzt mich unter Stress. Wenn ich jetzt rangehe, muss ich mich sofort damit auseinandersetzen, schnell reagieren. Dafür habe ich aber jetzt keine Zeit oder Energie. Wieso er nicht einfach eine E-Mail schickt? Wir lesen E-Mails und WhatsApp-Nachrichten, schließen sie, wollen vielleicht später antworten und vergessen es dann. Oder wir behalten es im Hinterkopf und überlegen immer wieder, ob und wann wir antworten sollen. Das kostet Energie, verursacht bei Sender und Empfänger Stress.

Sekretariat an Google delegiert

Google hat jüngst eine digitale Sekretärin vorgestellt, die Telefongespräche führt. Ein raffinierter Sprachassistent, der für seinen Nutzer zum Beispiel einen Tisch im Restaurant bestellen oder einen Friseurtermin vereinbaren kann. Die Spracherkennung versteht sogar starke Akzente des menschlichen Gesprächspartners am anderen Ende der Leitung und bewältigt auch unerwartete Telefon-Situationen und Missverständnisse. So spart der User Zeit, sagt Google, weil er nicht selbst anrufen, sondern den Anruf nur in Auftrag geben muss, per Sprachbefehl natürlich. Die Google-Assistentin ruft wahrscheinlich so oft an, bis es klappt. Nicht-Erreichbarkeits-Frust kennt sie ja nicht.

Alexa übernimmt das Telefonieren

Im Internet der Dinge nimmt Software uns „echte“ Kommunikation immer mehr ab. Sprachbefehle werden in der nächsten Zeit rasant zunehmen und die Kommunikation bestimmen. „Alexa, schick eine Nachricht an meinen Kollegen!“ Telefonieren im herkömmlichen Sinne werden wir noch viel weniger als jetzt. Das unmittelbare Gespräch verliert an Bedeutung. Nach unserem Gefühl haben wir sowieso keine Zeit dafür, am Telefon nicht, aber auch nicht für das direkte Gespräch face-to-face. Während der andere redet, liest man parallel noch E-Mails.

Die Digitalisierung hat den schon älteren Irrglauben noch verstärkt, dass wir ständig Zeit sparen müssen. Dieses Gefühl hängt auch mit der Entrhythmisierung durch das Digitale zusammen. Alles ist zu jeder Zeit verfügbar und möglich. Man kann ohnehin alles nachschauen im Internet. Schreiben Sie mir doch eine E-Mail! Das Telefon klingelt? Warum ausgerechnet jetzt reden? Ich mache gerade etwas anderes. Die E-Mail kann ich auch später noch beantworten, die WhatsApp-Sprachnachricht später aufnehmen, und zwar so oft, bis sie perfekt ist, bevor ich sie abschicke. Der eine wartet und wundert sich, warum der andere sich nicht rührt. Dabei soll doch in der digitalen Kommunikation alles immer schnell und zeitsparend sein. Der Empfänger schiebt die Kommunikation immer weiter hinaus, weiß aber, dass da doch noch ein Anruf oder eine Nachricht war, die er beantworten müsste.

Am Ende wäre man lieber direkt rangegangen. Man weiß ja nie, wann der andere wieder aus dem Funkloch rauskommt.

Text: Matthias Alexander Schmidt

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Kategorie: Digitalisiert

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