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Digitalismus: Ent-Rhythmisierung und Burnout

„Das kann ich später noch machen.“ Es gibt Eulen und Lerchen, solche Menschen, die in den Morgenstunden auf dem Hoch ihrer Kreativität und Leistungsfähigkeit sind und solche, die eher Richtung spätem Nachmittag und Abend anfangen, die Wichtigen Dinge zu tun. Das hat mit Hormonen zu tun. Wer beständig gegen diesen persönlichen Rhythmus angeht, kommt auf Dauer nicht zu einem ausgewogenen Verhältnis von erfolgreicher Arbeit und tatsächlicher Entspannung. Diese Erkenntnis ist nicht neu. Doch im Digitalismus kann jeder zu jeder Zeit alles tun.

Digitalismus destrukturiert

So schön und praktisch „Home Office“ und flexible Arbeitszeiten sind, so chaotisch werden Wahrnehmung und Tagesstrukturen. Der Digitalismus destrukturiert. Alles kann und soll immer machbar sein. Alles soll gleichzeitig geschehen. 30 Tabs können im Browser gleichzeitig geöffnet sein, WhatsApp, Email, Facebook, Twitter, YouTube, Bahn-App, Nachrichten. Es geht immer alles. Konzentration auf eine Sache wird verunmöglicht. Es gibt kein Tag und Nacht mehr. Irgendjemand will immer etwas von mir. Es gibt einfach zuviele Möglichkeiten. Und niemand widerspricht der Erreichbarkeits-Krake namens Digitalismus.

Nichts für bloß für mich: Keine Entspannung

Ständige Erreichbarkeit, auch wenn viel weniger telefoniert wird. Ein andauernder Strom von Posts, Nachrichten, Mails, Bildern, Veranstaltungseinladungen. Das Gehirn ist so sehr damit beschäftigt, zu filtern, dass eine Konzentration auf einige wenige Dinge sehr schwierig wird. Alles soll zentral auf riesigen Plattformen stattfinden. Ohne die Digitalmonopolisten erreiche ich mit meiner Arbeit auch niemanden mehr. Dinge finden ja im Grunde gar nicht mehr statt, wenn sie nicht in den sozialen Netzwerken dokumentiert sind. Selbst Freizeitaktivitäten wie eine eigentlich zum Entspannen gedachte Joggingrunde muss auf Facebook vorkommen. Ich kann nichts mehr nur für mich machen, muss immer an die anderen denken. Ich muss doch zumindest überlegen, ob es nicht gut wäre, Fotos vom bunten Herbstlaub bei meinem einsamen Spaziergang zu posten.

Mae Holland, Protagonistin im Google-in-der-nahen-Zukunft-Roman „The Circle“ arbeitet Tag und Nacht. Irgendwas ist ja immer. Wenn es nicht die beruflichen Anforderungen sind, gibt es die sozialen Verpflichtungen. Das ganze Leben findet digital, auf irgendeinem Bildschirm statt, und im Idealfall für die Konzerne, auf einer einzigen Plattform. Einladungen zu Veranstaltungen, Kontakt zu Freunden usw. Irgendwann hat sie sechs verschiedene Bildschirme: einen für die Bearbeitung von Kundenanfragen (ihr eigentlicher Kernjob), ein zweiter für die Vernetzung mit Kollegen zur Unterstützung bei dienstlichen Fragen, ein dritter für das soziale Netzwerk innerhalb des Konzerns, der vierte für das soziale Netzwerk, in dem auch Menschen außerhalb des Konzerns sind. Ein Bildschirm am Arm mit ihren aktuellen Gesundheitsdaten und einen, der zeigt, was ihre persönliche Kamera gerade sendet.

Smartphone entsperrt Glückshormone

Bereits beim Entsperren des Smartphone- oder Tabletbildschirms wird Dopamin ausgeschüttet. In der Erwartung, der Hoffnung, dass es etwas Neues geben, etwas was Gutes zu sehen geben könnte. Es ist ähnlich wie beim Glücksspiel: dieses Mal- ja! Dieses Mal könnte es ja der Gewinn sein, auch wenn es extrem unwahrscheinlich ist. Dieses Mal kommt eine wirklich gute Whatsapp-Nachricht, eine wirklich wichtige E-Mail! Nur noch einmal entsperren! Einmal noch – dann mach ich das Handy in den Flugmodus und schließe endlich für ein paar wenige Stunden die Augen, gönne mir etwas Schlaf, etwas Ruhe – bis am Morgen schon wieder die Lampe leuchtet am oberen Rand des Smartphones – bis es wieder vibriert und mir sagt: Du bist wichtig, du wirst gebraucht, du bekommst Aufmerksamkeit!

Kein Abschalten im Digitalismus, die Folge: Burnout

Burnout ist im Kern eine Schlafstörung und die ist heute eine Konsequenz des Digitalismus. Es gibt keine Ruhe mehr, kein Abschalten, keinen gesunden Schlaf- und Wachrhythmus, wenn ständig auf mehrere Geräten irgendetwas los ist, Privat und Beruf völlig vermischt sind – der Alltag völlig ent-rhythmisiert. Wir können arbeiten, wann immer nötig. Und das ist immer.Der Körper kommt nicht mehr hinterher. Auch die Bildschirmhelligkeit bis unmittelbar vor dem Einschlafen direkt vor den Augen zu haben, schadet dem Einschlafprozess.

Nebenbei müssen wir noch ständig alle möglichen Dinge, Erlebnisse, Gedanken in unserem Leben dokumentieren, Erlebnisse der anderen kommentieren, auf Kommentare reagieren. Das kann nur aushalten, wer fortwährend beschäftigt ist. Die Angst davor, den Anschluss zu verlieren, wird sonst zu groß. Die Folgen: Rast- und Ruhelosigkeit, Verlustängste, Schlafstörungen.

© Matthias Alexander Schmidt


Kategorie: hinsehen.net Digitalisiert

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