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Kontemplation – mehr als Stress-Kompensation

Meditation dient Millennials oft als Ausgleich zum digitalen Dauerstress. Kontemplation, das meditative Beten im Schweigen, entlastet nicht nur junge Erwachsene von der ständigen Erreichbarkeit und Aufgabenfülle. Doch es geht um mehr als nur Stressabbau.

Meine Bedürfnisse nach Ruhe und Entspannung im stressigen Millennial-Alltag kann ich auch mit einer geistlichen „Brille“ anschauen. Dazu muss ich die Bedürfnisse an sich zunächst einmal wahrnehmen. In mir ist es unruhig, ich fühle mich gestresst, ich bin nervös, müde, vielleicht unzufrieden, spüre eine innere Leere oder Einsamkeit. Im Alltag bin ich gewohnt, diese und ähnliche Gefühle zu übergehen, sie zu ignorieren, sie beiseitezuschieben, zu verdrängen und sie abzuwerten. Sie sollen jetzt nicht da sein. Solche gemeinhin als „negativ“ bewerteten Regungen kann ich nicht gebrauchen, ich will sie nicht spüren, habe Angst, dass sie mich von Produktivität und Funktionieren abhalten. Im ToDo- und Leistungsmodus lasse ich sie nicht zu – und wundere, ja ärgere mich dann abends, nachts, am Wochenende, wenn ich mich entspannen will, dass sich diese Gefühle einfach ihren Raum nehmen: Ich will Feierabend, Pause machen, schlafen, Freude an freier Zeit haben, schöne Dinge genießen, meine Partnerschaft pflegen, aber ich fühle mich stattdessen rastlos, angespannt, innerlich taub, leer. Denn meine inneren Geister lassen sich nicht austricksen, meine Gefühls- und Gedankenwelt ist komplex. Wenn ich versuche, die vermeintlich negativ besetzten inneren Regungen nicht zu spüren, sie vorschnell als schädlich bewerte und ausblende, dann verliere ich nach und nach auch meine inneren Antennen für die schönen, leichten, freudigen Schwingungen. Es ist ja gar nicht alles immer nur schwer, ermüdend, frustrierend, es gibt auch Anlass für Freude, Dank – wenn das Schreiben leicht von der Hand geht, die kreativen Ideen fließen, ein Konflikt mit Kollegen sich langsam löst. Woher kommt welches Gefühl, bei welcher Tätigkeit, welcher Art von Gesprächen fühle ich mich längerfristig gut?

Wahrnehmen, was auf mich wirkt

Wer oder was genau löst eigentlich Stress in mir aus? Für diese Unterscheidung muss ich meine Wahrnehmung schulen. Sie kann dann nach und nach der erste Schritt zum kontemplativen Beten werden. Im Alltag bin ich daran gewöhnt, alles sofort zu bewerten, um schnell Entscheidungen zu treffen und ins Handeln zu kommen. Dabei übergehe ich nicht selten wertvolle Hinweise, die mir meine Gefühle geben könnten, wenn ich sie erst einmal wahrnähme, ohne sie zu bewerten, alle Gefühle, auch die vermeintlich schlechten. Wahrnehmen heißt: Ich nehme mir Zeit, nichts zu tun: Ich bin aufmerksam und spüre, was sich meinen inneren und äußeren Sinnen zeigt. Meine Sinne kann ich zum Beispiel bei einem Spaziergang in der Natur öffnen und schulen: Was sehe, höre, rieche, schmecke ich, was fühle ich – wie wirkt der Baum, das Gras, der Wind, das Vogelzwitschern auf mich? Dabei versuche ich, nicht unmittelbar in die Bewertung der Eindrücke überzugehen, sondern das auf mich wirken zu lassen, was ich wahrnehme. Oder ich nehme mir zuhause ein paar Minuten Zeit - mit mir selbst, ohne Smartphone, setze mich hin und meditiere: Wie fühlen sich meine verschiedenen Körperteile gerade an. Ich versuche, meinem Atem zu lauschen, bin aufmerksam für das, was mein Körper und mein Geist mir zeigen wollen – äußerlich wie innerlich. Und ich versuche, nicht krampfhaft bestimmte „gute“ oder „schlechte“ Dinge zu fühlen oder das, was ich gerade spüre, zu verändern. Für mich sind solche Meditationsübungen sehr herausfordernd. Es fällt mir nicht leicht, aus dem Denken, Entscheiden, Bewerten und Handeln herauszugehen und quasi „nichts“ zu tun. Meine Gedanken schweifen ab, mein Geist zerstreut sich, ich spüre meine innere Unruhe, denke an die nächsten Aufgaben, E-Mails, Meetings, lande gedanklich bei einem alten Konflikt, bei traurigen Erinnerungen. Oder ich habe auf einmal eine richtig gute Idee, die ich am liebsten sofort aufschreiben und weiter darüber nachdenken würde, kann vor Energie kaum noch stillsitzen. Meist zwickt und knackt irgendetwas am Nacken, im Rücken oder der Bauch gluckert. Soll ich dieses Gedanken- und Gefühlschaos in der Meditation ignorieren und wegschieben – die Meditation beenden? Was muss ich tun, um wirklich innerlich leer zu werden? Ich will doch zur Ruhe kommen und nicht alle möglichen störenden Dinge spüren.

Gefühle kommen und gehen lassen

Durch Hinweise von geistlichen Begleiter*innen in kontemplativen Exerzitien-Tagen im Haus Gries der Jesuiten Kronach im Frankenwald habe ich gelernt, nicht gegen solche Fragen und Gedanken in der Meditation anzukämpfen, sondern wahrzunehmen, dass sie da sind – damit bin ich mitten in der Wahrnehmung, dem Kern der Meditation –, sie kurz anzuschauen und dann die Entscheidung zu treffen, mich nicht in ihnen zu verlieren. In der Meditation kann ich die Probleme und Ideen sowieso nicht bearbeiten, dafür habe ich ja den ganzen restlichen Tag Zeit. Wenn ich versuche, sie wegzuschieben, gerate ich in den Modus des Bewertens, Tuns und Leistens, komme weg von der Wahrnehmung, für die ich diese kurze Zeit am Tag eigentlich reserviert habe. Je mehr ich versuche, diese Störungen in der Meditation zu ignorieren, desto stärker melden sie sich irgendwann zurück. Wenn ich versuche, immer wieder in die Wahrnehmung zurückzukommen, etwa über die Aufmerksamkeit für meine Atmung, die von alleine kommt und geht, kann ich üben, die tieferen Regungen und Sehnsüchte wahrzunehmen, die sich hinter diffusen Gedankenspiralen oder bestimmten Gefühlen verbergen. In mehreren Exerzitien-Tagen am Stück, in einem Haus in der Natur, mit anderen Teilnehmenden und Begleiter*innen fällt es mir viel leichter, mich auf solche Übungen einzulassen. Im Alltag tue ich mich schwer damit, traue mich selten, mir solche Zeiten zu gönnen, habe Angst, große Unruhe zu empfinden, hibbelig dazusitzen, abgelenkt zu sein, mich von meinem schnellen Herzschlag irritieren zu lassen, unangenehme Gefühle zu spüren. Ich denke, ich könnte die Meditation „falsch“ machen oder damit die Zeit verschwenden, die ich für Arbeit oder vermeintlich „richtige“ Entspannung brauche. Dabei fühle ich mich in aller Regel nach den meisten Meditationen oft etwas entspannter, ruhiger, besser als vorher. Ich komme zur Ruhe, auch körperlich. Ich spüre mich ganz. Mein Dasein ist ja nicht nur geistig, sondern auch physisch.

Den Körper ernst nehmen

Ich bestehe als Mensch aus Leib und Seele, nicht dualistisch, sondern als Einheit von beidem, untrennbar, auch aus christlicher Sicht ist das eigentlich ganz klar. Als im Digitalen verwurzelter, vor Bildschirmen lebender Geisteswissenschaftler vergesse ich das leicht. Ich mute meinem Körper ziemlich viel zu, halte es irgendwie für selbstverständlich, dass er den ganzen Stress und Druck des Alltags für mich aushält, sehe ihn oft nur als Werkzeug und Hilfsmittel, nehme Müdigkeit, Rückenschmerzen oder Verspannungen, Verdauungsprobleme oft nicht als Anzeichen von tieferliegendem Stress und Druck ernst. Deshalb tue ich mich mit dem Spüren aller Teile Körpers, meiner Atmung, meines Herzschlags, des Lebens beim der Kontemplation besonders schwer. Gerade am Anfang fühle ich mich innerlich sehr unruhig, meine Atmung ist flach und unregelmäßig, mein Puls schnell, ich bin aufgeregt und habe das Gefühl, das Ein- und Ausatmen kontrollieren zu müssen, um Herzschlag und Atmung zu verlangsamen, in Ruhe zu bringen, zu mir kommen zu können.

Zeiten, ohne effektiv zu sein

Die Angst vor diesen Phasen der Meditation lässt mich im Alltag oft erst gar nicht damit anfangen. Ein selbstausbeuterischer, leistungsorientierter Geist in mir kämpft gegen diese kostbaren Zeiten der Wahrnehmung, versucht mir weiszumachen, diese eigentlich elementar wichtige Dimension des Menschseins dürfe ausgerechnet ich mir nicht zugestehen, ich könnte doch auch ohne sie funktionieren, solle nicht innerlich so weich und durchlässig werden, womöglich würde ich sonst noch meine Effizienz, Härte und Leistungsfähigkeit verlieren. Ich erkenne die kapitalistisch konditionierte Versuchung, meinen Wunsch nach Ruhe und Entspannung, nach Stille und Nichts-Tun im Alltag zu ignorieren, Müdigkeit und Rastlosigkeit zu übergehen, weiterzumachen, wenn ich eigentlich nicht mehr kann. Damit mache ich mich hart, weil ich meine, dann effektiver, erfolgreicher zu sein. Wenn das Nächste erledigt ist, dann kann ich ja mal eine Pause machen. So gelange ich aber nicht zu meinen Sehnsüchten und auch nicht in gelingende Beziehungen. Denn ich entwickle unterbewusst die Haltung, es käme in allen Lebensbereichen auf Leistung an, darauf, etwas zu tun, zu schaffen, zu verbessern, Ziele zu erreichen, mich zu optimieren, meine Freizeit besser zu gestalten, Freundschaften und Partnerschaft zu optimieren. Häufig fehlt mir dazu aber die Kraft und ich fühle mich ungenügend. Diese leistungsorientierte Haltung überträgt sich auch auf den spirituellen und religiösen Bereich. Ich meine, auch im Gebet käme es darauf an, alles richtig zu machen, Gott erwarte Leistung von mir, dass ich im Gebet etwas tue und erreiche.

Wenn ich meinem Wunsch nach innerer und äußerer Stille nachgehe, mir Zeiten von innerer und äußerer Aufmerksamkeit möglichst regelmäßig gönne, dann übe ich, meine kleinen, vielleicht banal erscheinenden Sehnsüchten wahrzunehmen und ernst zu nehmen. Ich erlaube mir, innerlich weicher zu werden, durchlässiger, ich lerne, die ganze Bandbreite meiner Gefühle zuzulassen, „positive“ wie „negative“. Ich entdecke spirituelle Anklänge und tiefere, sogar religiöse Ebenen in meinen scheinbar bloß profanen Bedürfnissen.

Meine Gefühle und Sehnsüchte könne mich auf diese Weise zu meinen größeren, tieferen Lebenssehnsüchten führen – Meditation kann so zu Gebet und Gottesbeziehung werden. Wie ich diesen Prozess jenseits floskelhaft klingender religiöser Sprache erlebe und verstehe, dazu folgt ein weiterer Beitrag.

 

Dieser Beitrag ist, leicht gekürzt, in der Wochenzeitschrift „Christ in der Gegenwart“ (Verlag Herder) gedruckt worden (CIG 45/2021): Wie geht „richtig“ meditieren?

Zum Weiterlesen:
Ich fühle mich innerlich so gestresst, unruhig, chaotisch, mein Kopf ist voller digitaler ToDo-Listen. Kann ich so vor Gott kommen? Will Gott überhaupt, dass Millennials beten?

 

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