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Ich habe nicht mehr so viel Zeit

Das knappste Gut ist die Zeit. Wir haben so viel vor, immer ist etwas zu erledigen. Selten können wir uns von dem Druck lösen. Bleibt das im Alter auch so? Oder wird da die Zeit wirklich knapp? Jutta Mügge schreibt an ihrer Alters-Serie weiter

Eine junge Frau steht an der Kasse. Da drängelt sich ein älterer Herr an ihr vorbei und stellt sich vor sie an. Die junge Frau, ganz konsterniert, schaut ihn an und sagt: „Sie haben sich vorgedrängelt“ Er mit einem Lächeln auf den Lippen: „ Ja, junge Frau, ich bin auch alt und hab nicht mehr so viel Zeit wie Sie.“
Sie muss über diese Antwort innerlich lächeln und lässt den „Alten“ vor.
Sie denkt: Diese Ausrede ist pfiffig, aber es ist auch dreist. Woher nimmt er das Recht, sich so zu benehmen? Nur weil er alt ist? Er fragt noch nicht einmal, ob ich ihn vorlasse. Ich hätte ihm das ja mit seinen drei Stücken angeboten, aber er hatte es so eilig. Ich kam gar nicht dazu.
„Du sollst die Alten ehren!“ So hat sie es als Kind gelernt. Aber ist das ein ehrenhaftes Verhalten. Würde ihm nicht besser anstehen, wenn er sich wie andere auch in der Schlange einreihen würde.
 Sie findet es frech.
Sie muss sich dann doch richtig zusammenreißen, um nicht ausfällig zu werden, denn ihr fallen alle möglichen Situationen ein, in denen gedrängelt wird.
Er denkt: Ach, diese junge Frau hat noch soviel Lebenszeit vor sich. Außerdem habe ich ja nur 3 Teile, sie den ganzen Wagen voll. Da kann ich doch mal eben an ihr vorbei. Außerdem gebührt dem Alter ja auch ein wenig Respekt. Ich habe mein Leben lang hart gearbeitet und mir damit einen Altersbonus verdient.
Das Verhalten der einen ist nachvollziehbar, das des anderen auch. Haben aber deshalb beide recht?

Kreatives Anstehen

Wir kennen das alle, ob jung ob alt - die Vordrängler an der Kasse im Supermarkt, mit der Ausrede „ich muss noch den Bus kriegen“, an der Straßenbahn, um noch einen Platz zu ergattern, am Lift im Skigebiet, um schneller oben zu sein und vor den anderen abfahren zu können. Vordrängeln ist weit verbreitet. Wer es geschickt anstellt, wird manchmal auch noch bewundert. Er hat noch eine Theaterkarte ergattert, bei Aldi noch den super günstigen Staubsauger erwischt, im Winterschlussverkauf einen von den drei super billigen Designerklamotten erstanden.
Viele Motive lassen den Einzelnen zum Vordrängler werden, aber es hat immer einen Beigeschmack. Bei den Jungen könnte man ja noch sagen: Die haben auch wirklich wenig Zeit. Da warten die Kinder, das Essen, die Arbeit. Sie müssen sehr rationell mit ihrer Zeit umgehen. Aber was ist denn mit den Rentnern?

Warten gibt dem Alter Sinn

Wenn ich älter bin, die Zeit mir nicht mehr so im Nacken sitzt, ich von dem Druck  befreit bin, jeden Tag pünktlich im Dienst zu sein, keine Kleinkinder mehr betreut werden müssen, dann kann ich den Tag anders gestalten. Fast nichts ist im Alter dann noch so wichtig, als dass es nicht warten könnte. Es sei denn, dass ich mich selbst unter einen Zeitstress setze, weil ich die leeren Zeiten nicht ertrage. Ist es nicht ein Gewinn, warten zu können, beim Einkaufen den Jungen den Vortritt zu lassen. Es gibt dankbare Blicke, ich fahre mich selbst in ruhige Gewässer, weil mich nichts hetzt. Ich muss doch auch nichts Großes mehr erreichen. Ich kann den Jungen in vielen Situationen zuschauen, wie sie ihr Leben gestalten. Wenn ich mich von dem uns umgebenden Zeitstress freimache, strahle ich Ruhe aus und heize die Unrast nicht noch an. Ich kann das Signal senden: Es gibt auch für euch einmal ruhigere Zeiten. Ich verstehe eure Eile, aber vieles Wichtige im Leben erreicht man nicht unter Zeitdruck.  

Das weiß man schon seit Jahrhunderten;
Bei Jesaia 30;15.18 steht: Nur in der Umkehr und Ruhe, nur Stille und Vertrauen verleihen euch Kraft.


Kategorie: Verstehen

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