Es sind oft die Kinder oder Jugendlichen, die sich nicht in den Vordergrund schieben und gelernt haben zu warten. Sie arrangieren sich mit ihrer Rolle. Das kann dazu führen, dass sie nicht selten übersehen, nicht gefragt, nicht eingebunden werden, weil die Einschätzung vorherrscht, dass sie ja „sowieso nichts zu sagen“ hätten, unwichtig sind, keine Meinungsführerschaft übernehmen. Sie wirken auf andere eher uninteressiert. Da geraten sie schnell in eine bestimmte Ecke. „Der ist so langweilig“ oder „sie träumt sich nur weg“, „mit der kannst du nichts anfangen“, „die schafft das sowieso nicht“, „die ist zu blöd dazu“, „die chillt nur rum“ oder „versteckt sich in ihren Büchern oder hinter ihrem i-fon“. Dem kommen die Extravertierten zuvor. Sie haben zu allem etwas zu sagen, sind bei allem mit dabei, finden durch ihr Verhalten Beachtung. Sie gewinnen oft auch die Sympathien der Erwachsenen, denn sie entsprechen meist deren Vorstellungen.
Was passiert da?
Es sind nicht nur die Gene in uns, die sich in dem Verhalten des Rückzuges zeigen. Es ist auch der Platz im Familiensystem den ich als Kleinkind wählen musste um zu überleben. Denn schon früh suche ich mir in meiner Familie einen Platz, der noch nicht besetzt ist. Es kann auch sein, dass mir dieser Platz durch das Verhalten der Eltern oder der Geschwister unbewusst zugewiesen wird. Er sichert ab, dass ich zumindest die Grundversorgung erhalte. Ist der Platz des lauten, unruhigen, aktiven und sprechfreudigen Kindes bereits besetzt, sind Eltern froh, wenn das nächste Kind etwas pflegeleichter ist, sich ruhiger entwickelt und nicht so anspruchsvoll und anstrengend ist wie das aktive Kind. Sie selbst sind ja oft durch ihre eigene Berufstätigkeit angespannt genug, da braucht es Ausgleich. Da zieht das ruhige Kind nicht soviel Aufmerksamkeit ab. Dabei passiert es dann auch, dass die fördernden Impulse der Eltern mehr auf das aktive Kind ausgerichtet sind. Das stille Kind muss sich dann selbst beschäftigen, geht der Auseinandersetzung aus dem Wege und versucht irgendwie durchzukommen.
Stille Wasser gründen tiefer
Die Umwelt glaubt schnell, dass sie nicht besonders kreativ sind und man keine anspruchsvollen Leistungen von ihnen erwarten kann. Jedoch verfügen sie über Fähigkeiten, ohne die die Aktiven nicht so viel Energie entwickeln könnten. Die Leisen haben nämlich Zugang zu einer inneren Kraftquelle, die sie in ihrem meditativen Leben bereits als Kind ausbilden konnten. Es finden sich solche Menschen in den Wissenschaften und oft auch dort, wo Kunst, Musik, Geschichte gepflegt und bewahrt wird. In der Orthodoxie wie im Katholizismus genießen diese Begabungen eine hohe Wertschätzung. Die kontemplativen Orden und die intensiven Beter und Beterinnen bewahren durch ihr meditatives Leben die religiöse Gemeinschaft davor, sich in Äußerlichkeiten zu verlieren. Sie gewinnen dadurch Einfluss, indem sie das, was untergründig auch von den anderen als lebenswert erachtet wird, im Blick haben.
Nicht dazu gehören
Die Stillen erleben sich häufig als nicht zugehörig zu „dieser Welt“. Viele durchlaufen in der Kindheit Phasen, in denen sie zeitweise die Erfahrung machen mussten, nicht dazuzugehören. Nicht nur die Stillen haben Ausgrenzung erfahren, z.B. von einer Mädchenclique, zu der man gerne dazugehören wollte, oder zu Ausflügen anderer nicht mitgenommen oder zu bestimmten Partys nicht eingeladen wurde. Ich selbst erinnere mich an Ausgrenzungen in der Schule durch Lehrerinnen, bei denen ich keinen guten Stand hatte. Das Gefühl, das dabei entsteht, ist wie Absturz in ein dunkles Nichts. Verloren gehen. Es macht Angst, tut weh und verursacht erst einmal eine Ohnmacht, aus der schwer rauszukommen ist. Aber solche Erfahrungen mobilisieren die eigenen Überlebensstrategien. Da können ungeahnte Kräfte wachsen. Schon als Kind kann ich mich entscheiden, anderswo Anschluss zu finden oder mich ganz zurückzuziehen und für mich allein zu bleiben. In dem kleinen Büchlein „Die Blöde“ erzählt Barbara Fer die Entwicklung eines solchen Kindes. Mona wird mit Ausgrenzungserfahrungen in ihrer Familie groß und damit auch fertig.
Eine Erzählung: „Die Blöde“
Die Autorin entwickelt ein Portrait von Mona, die als drittes Kind im Schatten ihrer Geschwister steht die alle Aufmerksamkeit der Eltern auf sich ziehen. Die Älteste nennt ihre kleine Schwester auch „die Blöde“. Mona als Nesthäkchen fühlt sich kaum beachtet. Weder von den Eltern noch von ihren Geschwistern. Sie hat auch nichts zu sagen und für Probleme gibt es keine Zeit. Der Vater ist Geschäftsmann und die Mutter hat ihre eigenen Interessen. Mona muss sehen, wo sie emotional bleibt. Sie bildet innere Kräfte aus, mit denen sie ihr Leben selbst in die Hand nimmt. Niemand bemerkt ihre Aktivitäten. Erst als etwas Entscheidendes passiert, werden die Eltern aufmerksam und wachen auf. Jetzt müssen sie auf Mona reagieren. Dabei entdecken sie zum ersten Mal welche Qualitäten dieses Kind in sich entwickelt hat und zu was es fähig ist. Die Autorin beschreibt als Beobachterin mit dem Blick von außen diese Familiengeschichte. Damit kommt sie dem Familiensystem Monas nahe, in dem ein Kind erst Aufmerksamkeit findet, wenn es etwas zustande bringt. Als Leserin hätte ich mir gewünscht, diese Mona von innen her noch besser zu verstehen und mitzubekommen, wie sie ihre Kräfte mobilisiert und ihre Eltern überrascht. Das wäre auch für Leserinnen, die sich ebenfalls wie Mona still verhalten, von großem Interesse. Denn die Stillen sind ja innerlich nicht leer, sondern haben ein reiches inneres Leben entwickelt. Es ist ja gerade die Stärke der Erzählung, eines Romans, die Stimmungslagen sowie die Konflikte zwischen den Personen auszuloten. Denn Viele der Stillen wollen sich mit ihren Gefühlen wenigstens von Schriftstellerinnen verstanden fühlen, wenn schon ihre Umgebung keine Aufmerksamkeit für sie entwickelt.
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