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Der Theodizee-Vorwurf missachtet die Vernunft

Der Kosmos und die Biosphäre sind Entwicklungsprojekte. An der Weiter-Entwicklung des Homo sapiens könnte man jedoch verzweifeln. Sie wird durch den Ukraine-Krieg zurückgedreht. Wenn die Menschheit von Gott herstammt, müsste er, so fordern es Viele, eingreifen – und würde damit die Evolution abbrechen.

Am 24. Februar 2022 musste Europa feststellen, dass mit dem Angriff auf die Ukraine die Menschheit in ihrer Entwicklung zurückgeworfen worden ist. Zudem wurde der Krieg zwischen den Brudervölkern immer grausamer. Als würde der Klimakollaps nicht als existentielle Bedrohung ausreichen. Reicht also die Vernunft, mit der der Mensch ausgestattet ist, nur dafür aus, sich die Natur sowie andere Menschen zu unterwerfen? Das Umsteuern, bevor weite Teile der Erde unbewohnbar werden, wie auch der Verzicht auf Panzer und Raketen scheint den Menschen zu überfordern. Deshalb wird den Gläubigen die Frage gestellt, warum Gott nicht eingreift. Jedoch nicht die Gläubigen, sondern die Vertreter der Vernunft fordern seit 200 Jahren die "Rechtfertigung Gottes angesichts der Übel in der Welt“. Dafür steht der Begriff Theodizee Theos-Gott, dikae – Gerechtigkeit, Rechtfertigung.

Atheisten und Theisten stehen vor dem gleichen Problem

Da Gott nicht eingreift und auch Beten die Waffen nicht zum Schweigen bringt, sind die Christen ebenso wie die Atheisten auf sich selbst gestellt. Die Atheisten können kein anderes Weltall schaffen und auch nicht Millionen Jahre warten, ob die Evolution ein intelligenteres Wesen hervorbringt, das die Menschheit nicht ausrottet, sondern zu einem einvernehmlichen Zusammenleben mit der Natur und untereinander führt. Die Christen können von Gott nicht erwarten, dass er eingreift. Denn mit der Menschwerdung seines Sohnes hat er sich für dieses Wesen entschieden und auch vorgezeichnet, dass Eingreifen nicht sein Weg ist, schon gar nicht mit strafender Gewalt. Die Atheisten können also den Gläubigen nicht vorhalten, dass ihr Gott nicht eingreift, denn die Christen gehen nicht davon aus, dass Gott dazu verpflichtet wäre. Müssten die Atheisten nicht viel mehr der menschlichen Vernunft zutrauen, dass sie sowohl einen Weg findet, den Klimakollaps abzuwenden wie auch Kriege überflüssig zu machen? 

Wieso kann es Gott nicht geben, weil es Übel gibt?

Sexueller Missbrauch, "militärische Interventionen", Völkermord stellen die Gattung "Homo sapiens" infrage. Sie hatte sich vor 200 Jahren im Licht der Aufklärung entschieden, Kraft der Vernunft endlich eine tragfähige Ordnung zu errichten. Vernunftgeleitete Politik würde Kriege überflüssig machen. Die mythische Erzählung von Kain und Abel wie die archäologischen Funde bestätigen die Vermutung, dass die mit Vernunft ausgestattete Affenart für sich selbst die größte Gefahr darstellt. Jede Generation hat daher von außen Hilfe erwartet. Sollte es eine dem Menschen wohlwollende Macht geben, dann würde sie doch eingreifen. Sie tut es aber nicht. Also, so die Schlussfolgerung der Vernunft, gibt es diese Macht nicht. Es ist die Vernunft, die durchaus in der Lage ist, Krieg und Holocaust als Übel zu erkennen und dagegen etwas tun. So hat sie das Völkerecht entwickelt und die UNO eingerichtet. Die Montanunion unterstellte 1951 die Kohle- und Stahlindustrie einer übernationalen Behörde, um eine nächste Aufrüstung zu kontrollieren. Ehe man also jetzt Gott wegen "unterlassener Hilfeleistung" die Existenz abspricht, könnte man doch zuerst die Vernunft unter die Lupe nehmen. Wäre es nicht naheliegender, die Möglichkeiten der Vernunft auszuschöpfen, ehe man die noch schwierigere Aufgabe löst, Gott überflüssig zu machen. Man kann auch die Religion einbeziehen. Wenn man den Gründer des Christentums ernst nimmt, dann könnte man den Ukrainekrieg nicht rechtfertigen. Der orthodoxe Patriarch von Moskau muss das wohl im Namen eines anderen Gottes tun.

Die Vernunft legt aus sich selbst nahe, ihren Gebrauch zu verbessern

Die vielen Lehrer und Professoren sind dazu angetreten. Denn es würde das Scheitern der Aufklärung bedeuten, wenn die Vernunft nicht in der Lage wäre, das Massaker an Zivilisten in Buchta unmöglich zu machen. Die Affenart Homo sapiens ist ja deshalb so erfolgreich, weil die Vernunft mit der Sprache zu Kooperation befähigt, so dass sie sogar zum Mond fliegen kann. Wenn der Mensch mit allem ausgestattet ist und sogar zwischen Gut und Böse unterscheiden kann, dann wird Gott ihn ermutigen, die Anlagen und Kräfte zu gebrauchen, mit denen er durchaus das Zusammenleben lebensfreundlich gestalten kann. Würde Gott eingreifen, um die Menschen aus ihren Kriegen, dem Missbrauch, dem Völkermord herauszuholen, würde er ja der Vernunft des Menschen nicht trauen. Wenn also Gott den Menschen so ausgestattet hat, dass er sein Zusammenleben nicht durch Missbrauch und Kriege gefährden muss, dann heißt das doch, die Aufklärung weiterführen und nicht einen Eingriff von außen erwarten. Wer die Rechtfertigung Gottes angesichts der Übel fordert, schwächt die Vernunft, die der Mensch doch einsetzen muss, um diese Übel zu vermeiden. Daraus könnte man folgern: Wer den Vernunftgebrauch behindert, also den Zugang zu allen Informationen, das Abwägen des Pro und Contra, freie Rede, Philosophie, der ermöglicht Krieg. Dies trifft tatsächlich zu, wie in Russland zu beobachten ist.

Stützende Bedingungen für mehr Vernunft-Gebrauch

Die Schule, Bücher, Universitäten und Bildungseinrichtungen trainieren den Gebrauch der Vernunft. Das Argumentieren Pro und Contra findet in den Parlamenten, in Gerichten und an vielen anderen Orten statt. Die Vernunft hat wie der Sport eine Fülle von Plätzen und Hallen, um ins Spiel gebracht zu werden, auch in Russland. Da die Regeln der Mathematik wie der Logik überall gelten und Sprachgrenzen durch Übersetzungen für den internationalen Austausch offen sind, muss etwas anderes der weiteren, von der Vernunft getragenen Evolution im Wege stehen oder es fehlt noch Entscheidendes.

Die liberalen Wirtschaftskriege

Der Krieg gegen die Ukraine und mittelbar gegen die NATO schien wegen der Handelsbeziehungen unmöglich. Das stellt sich als eine Fehlkalkulation heraus: Denn wirtschaftlicher Vorteil durch Handel verhindert Kriege nicht. Wenn es um den Zugang zu Rohstoffen geht, dann ist der wirtschaftliche Vorteil sogar Ursache für Waffeneinsatz. Die Vernunft, die internationale Lieferketten, Handelsverträge und ihre Finanzierung zustande gebracht hat, braucht offensichtlich andere Instrumente, um Kriege überflüssig zu machen. Die Religion ist es nicht. Der Moskauer Patriarch rechtfertigt mit der Mehrheit der Russen den Krieg. Das schiitische Persien und das sunnitische Saudi-Arabien führen einen nicht endenden Stellvertreterkrieg in Syrien.

Technik können wir, es muss etwas Neues kommen

Der Ukrainekrieg deutet auf Neues hin. Es geht nicht mehr um Rohstoffe oder großen Landgewinn, sondern um die Lebensform Demokratie, also Rechtssicherheit, unabhängige Gerichte, um die in der UNO-Charta niedergelegten Freiheitsrechte, um das Letzt-Bestimmungsrecht nicht der Staatsführung, sondern des Parlamentes. Wenn diese Lebensform von den Russen übernommen wird, würde ein nächster Krieg verhindert. Der kommt mit Sicherheit, wenn es bei einem militärischen Sieg bleibt. Denkt man die Fragen weiter, dann kann nicht ein Noch-Mehr an Wirtschaft, sondern nur mehr kultureller Austausch den Umschwung erreichen. Eine Kulturinitiative zeigt die konkreten Wege. Jede kulturelle Tätigkeit, das Ehrenamt wie auch das weltweite Beten erbringen die Wertschöpfung, die die Demokratie als ihren Humus braucht. Angesichts der Infragestellung der Demokratie in den meisten europäischen Ländern scheint die EU sich auch in diese Richtung entwickeln zu müssen.

Hier weitere Beiträge, die die Kultur als Weiterführung der Evolution erklärt
Ohne kulturelle Werte gibt es Krieg
Humanismus plus – im Alltag der Schule
Werte brauchen Literatur
Ostern rettet die Evolution
Beten -  warum es wirkt


Kategorie: Analysiert

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