Bewohner mit unterschiedlichem Einfluss.
Da gibt es neben Zimmern auch Appartements. Die Räumlichkeiten können klein, groß, dunkel, hell sein. Mit den Jahren hat sich eine Hierarchie herausgebildet. Manche haben mehr als andere zu sagen. Es ist keine langweilige Hausgemeinschaft. Da ist viel Kommunikation. Jeder hat auch einen Namen, der viel über den Charakter des jeweiligen Bewohners aussagt.
Das Mach-es-Dir-gemütlich-Zimmer
Wenn ich morgens wach werde, mich noch einmal umdrehen will, weil es gerade so schön kuschelig ist, unterstützt mich der Bewohner aus einem der kleinsten Zimmer in meinem Haus. Er ist der, der es bei mir nicht so weit gebracht hat. Er ist träge, friedlich, ein bisschen zu faul, nimmt die Dinge einfach gelassen hin, ohne sich einen großen Kopf zu machen. Ihm fehlt der innere Antrieb, heute etwas Besonderes zu gestalten. Dazu fehlt ihm der „Biss“. Für ihn darf es nie zu anstrengend werden. Ich höre ihn sagen: „bleib ruhig noch ein bisschen liegen, es tut dir gut, du hast so viel in Deinem Leben gearbeitet, das kannst du dir jetzt gönnen.“
Ich genieße diese Unterstützung, versuche nochmal einzuschlafen oder so dahin zu dösen.
Das Mach-deine-Sachen-ordentlich-und-richtig - Zimmer
Da steht plötzlich der Nachbar aus dem gegenüber liegenden Appartement in der Türe. Er bewohnt die größte Wohnfläche in meinem Haus. Mit seinem lauten Organ und seiner strengen Stimme dominiert er alle. Er gibt den Ton an. Jetzt kann ich nicht mehr länger liegen bleiben oder gar noch mal einschlafen.
Dieser Ordnungshüter ist akribisch dahinter her, dass alles richtig gemacht wird. Länger im Bett liegen bleiben ist für ihn sträflich. Es warten in seinen Augen jeden Tag so viele Aufgaben auf mich, dass er dem kleinen, faulen Bewohner in dem Zimmer neben ihm seine Nachlässigkeit nicht durchgehen lassen kann.
„Du kannst doch nicht den halben Tag verschlafen, es gibt viel zu tun. Du hast für Deine Zeit die ganze Nacht, den Sonntag und dann noch den Urlaub“. Diesen Dialog führen die Beiden noch eine Weile, es geht hin und her. Argumente werden ausgetauscht, ich wäge ab. Dann ist es soweit, ich werde unruhig, mir geht all das durch den Kopf, was ich erledigen muss. Ich kann das Liegenbleiben nicht mehr genießen, weil dieser Typ natürlich Recht hat. Ich weiß, dass ich schlechte Laune kriege, wenn ich noch lange im Bett liegen bleibe. Also stehe ich auf.
Erst die Arbeit
Kaum bin ich gewaschen und angezogen, steht er wieder in der Türe. Der moralische Ordnungshüter, er schafft es jeden Morgen, dass ich erst einmal die Wohnung in Ordnung bringe, die Zimmer lüfte, die Betten mache, die Spülmaschine ausräume, das Bad reinige, die Wäsche bügle, durchsauge, bevor ich mich mit etwas wirklich Nützlichem beschäftigen kann. Wenn ich mich aber dann doch durchsetze, erst bete oder schreibe, um dann Ordnung zu machen, werde ich unruhig. Es ist der innere Antreiber in mir, der es nicht aushält, dass ich mal etwas liegen lasse. Langsam merke ich, dass er falsche Prioritäten setzt, denn wirklich wichtig ist nicht das, was ich alles zu erledigen habe, sondern ob ich meinen Lebensauftrag damit verwirkliche. Denn erst, wenn ich meine Berufung lebe, gewinne ich Zufriedenheit. Der Haushalt gehört als notwendiges Übel mit dazu. Wieder einmal wird mir klar. Dieser Bewohner darf nicht so viel Raum einnehmen, ich muss ihn umerziehen.
Das-Leben-locker-nehmen - Zimmer
Das Zimmer der Mitbewohnerin nebenan, die das alles lockerer nehmen könnte, ist leider auch ziemlich klein geraten. Es ist die Bewohnerin, die dem Leben immer etwas „Lustvolles“ abgewinnen kann, die nicht so streng ist, sich nicht gleich bei allem die Konsequenzen durchdenkt. Sie kann mit Wonne ohne schlechtes Gewissen ein großes Sahnetortenstück verspeisen, obwohl sie gerade auf Diät ist. Sie kann ganz locker mit einem Berg Bügelwäsche umgehen. Wenn sie keine Lust hat, bleibt er halt liegen. Diese Bewohnerin hatte kaum eine Chance, ihr Zimmer in meinem Haus so richtig schön auszubauen. Ich habe dem „ordnungsliebenden, korrekten Hausmeister“ mehr Entwicklungschancen gelassen. Deshalb konnte er sich auch so dominant verwirklichen. Er dominiert auch die anderen Bewohner in meinem Seelenhaus.
Das Zimmer der Freiheit
Ich habe am Ende des Flures mein spirituelles Zimmer. Es ist das Zimmer meiner Freiheit. Ich muss an allen anderen Zimmern vorbei, wenn ich dorthin gehen will. Es ist ein helles Appartement mit großen Fenstern bis zum Boden, Schiebetüren aus Glas für den Zugang nach draußen. Von hier aus kann ich über eine riesige Terrasse in den angrenzenden blühenden Garten gehen. Mein Blick geht in unendliche Weite. Dort finde ich Ruhe. Hier kann ich träumen, meditieren, mit der Liebe und der Wahrheit kommunizieren.
Die Verführungen
Kaum habe ich mich in meinem spirituellen Zimmer niedergelassen, mein Buch für das Morgengebet aufgeschlagen und einen ruhigen Atem gewonnen, steht der Ordnungshüter breitbeinig im Weg. Er macht mich aufmerksam darauf, dass ich noch Unkraut jäten muss, dass der Rasen noch nicht geschnitten ist, dass ich noch x-andere Sachen erledigen muss, bevor ich mir die Ruhe für die „Meditation“ gönnen darf. Da steht auch der „kleine Faule“ direkt neben ihm und sagt zu mir: „hör nicht auf den, leg dich doch lieber aufs Ohr und ruh dich aus“. Die „Lustvolle“, die das Leben leicht nimmt, ruft aus der offenen Türe: „willst du nicht lieber was Schönes unternehmen?“
Von diesen Bewohnern in mir geht immer Verführung aus. Obwohl die Anregungen so gegensätzlich sind, meinen es alle ja nur gut mit mir, aber was ist wirklich gut für mich?
Mein Freiheitszimmer
Ich könnte jetzt dem einen wie dem anderen folgen, dann würde ich allerdings das wirklich „Wichtige“ aus dem Blick verlieren. Was auch manchmal passiert. Dann ackere ich in meinem Garten, bis ich hundemüde bin, so dass mir die Aufmerksamkeit fürs Meditieren fehlt. Ich bin zwar nicht unzufrieden, aber doch ein wenig enttäuscht von mir selbst, dass ich meinem inneren Antreiber wieder einmal nachgegeben und mir keine Zeit gegönnt habe, auf der Bank zu sitzen, den Pflanzen beim Wachsen und Blühen zuzusehen, in meinem Garten zu leben und nicht nur zu arbeiten.
Wenn es mir gelingt, in mein spirituelles Zimmer zu gehen, das ich ja, wie mein ganzes Seelenhaus, in den Garten mitgenommen habe, spüre ich, wie ich innerlich frei werde. Der Druck, alles erledigen zu müssen, lässt nach. Hier werde ich zu nichts gezwungen, es gibt keine Vorgaben, ich kann meine Entscheidungen frei treffen, ich werde nicht unter Druck gesetzt. Die Bewohner, die mich von dieser Erfahrung abhalten wollen, haben dann keinen Einfluss mehr.
Es ist die Freiheit, die mich dort empfängt.
In dem hellen, großen Zimmer steht nicht mehr der Moralist hinter mir, sondern die Freiheit. Sie kann geduldig warten. Sie lockt auch nicht mit Trägheit oder Genuss. Dieses Zimmer ist in einer besonderen Weise anziehend. Es ist die Ruhe, die Weisheit, die Liebe und Wahrheit, die ich dort finde, die mich staunen lassen. Die Freiheit, die ich fühlen kann.
Auch wenn ich die Ordnung um mich herum brauche, bevor ich bete, schreibe, lese, Sport treibe oder mich mit etwas Kreativem beschäftigen kann, wird mir immer deutlicher, welches Geschenk mein spirituelles Freiheitszimmer für mich bereit hält.
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