Ich muss meinen Platz finden
Ich werde in ein Familiensystem geboren, das schon existiert. Da sind evtl. bereits Geschwister, die ihre Plätze schon eingenommen haben. Ich muss sehen, wo ich für mich einen Platz finde, auf dem noch keiner sitzt. Das kann ich nur, wenn ich etwas anderes in mir entfalte als meine Geschwister. Das läuft natürlich nicht bewusst ab, sondern ist meine Antwort auf die Reaktionen bzw. das Nicht-Reagieren der Umwelt auf meine Aktionen.
Ich muss mich schon als Kind damit auseinandersetzen, wie meine Umwelt auf mich reagiert.
Botschaften machen stark
Ich nehme schon als Kleinkind Botschaften verbal aber auch nonverbal wahr. Botschaften, die mir signalisieren, dass ich gesehen werde. Gesehen werden heißt auch, dass ich Zuwendung erhalte. Sie ist existentiell notwendig für mein Überleben. Also tue ich viel dafür, diesen Botschaften gerecht zu werden, indem ich mich entsprechend gegenüber meinen Eltern, den Erzieherinnen, den Großeltern und auch meinen Geschwistern verhalte. Die Botschaften klingen so:
„sei doch ein bisschen ordentlicher,“
„hilf mir, sei lieb und nett,“
„streng dich an du musst gut sein,“
„das Leben ist so schwer;“
„das musst du wissen;“
„frag nicht so viel mach es einfach,“
„nimm‘s leicht,“
„du kannst das, du bist stark,“
„sei friedlich, stör nicht.“
Solche Botschaften wirken in uns nach und setzen etwas in uns in Gang. Das muss nicht immer eins:eins aufgehen, ich kann als Kind auch Widerstand entwickeln, der mir sogar oft mehr Aufmerksamkeit und Beachtung sichert. Aus diesen Erfahrungen ziehe ich Schlüsse und entwickle mit zunehmendem Alter bestimmte Ausprägungen meines Charakters.
Manch einer mag die Botschaften der Eltern noch im Ohr haben. Sie beinhalten bereits Aufträge. Ich lerne mit diesen Botschaften, meinen Blick auf die Welt auszurichten.
„Ich muss es perfekt und ordentlich machen“
„Ich helfe anderen, sehe die Not, ich kann mich gut in andere einfühlen“,
„Ich habe ein gutes Gespür für Erfolg, vieles was ich anpacke gelingt“,
„Mich versteht niemand, ich leide an der Oberflächlichkeit der Welt“,
„Ich muss es wissen, sonst bleibt alles defizitär“,
„Ich kann mich gut anpassen, ich bin eine treue Seele, ich bin loyal“,
„Ich nehme das Leben leicht, es muss für mich lustvoll sein, ein bisschen Spaß kann nicht schaden“,
„Ich bin einflussreich, habe viele Projekte gleichzeitig laufen, fühle mich mächtig.“.
„Ich muss ausgleichen, selber friedlich sein, keine Probleme verursachen“
Diese Charakterzüge sind in gewissen Anteilen alle in uns verfügbar. Meist bilden wir einen davon besonders stark aus, wenn ich z.B. früh erfahre, dass ich mit diesem Verhalten auf positive Resonanz stoße. Dieser Charakterzug, meist liiert mit einem weiteren, der allerdings nicht so stark ausgebildet ist, dominiert dann auch meine Person, bestimmt meine Energie und damit meine Ausstrahlung. Auch mein Zugang zur Welt läuft über diesen besonderen Charakterzug. In diesem Muster kenne ich mich aus. Es wird zu meiner Stärke.
Mit meiner Stärke werde ich wahrgenommen, kann ich viel erreichen. Aber aus Reaktionen meiner Umwelt spüre ich, zuerst unbewusst, dass ich mit meinem ständig eingesetzten Verhalten, auch störend sein kann. Andere können mich damit auf die Dauer nicht mehr gut aushalten. Denn je mehr ich meinen Charakterzug auspräge, desto einseitiger verstärke ich meine Stärke, desto spürbarer wird die Ablehnung. Damit wird meine Erfolgsstrategie irgendwann zu meiner Niederlage. Im Folgenden beschreibe ich zwei Charaktermuster, ihre Verhaltensstrategie und in welche Krise oder Falle sie sich stürzen.
Ich muss es machen
Ich bin kreativ, ausgestattet mit Weitsicht und spüre die Kraft für neue Projekte. Ich bin sehr produktiv, arbeite ziemlich viel. Ich habe viele Ideen, die ich umsetze. Bei all dem nehme ich mir aber nicht genügend Auszeit, um zu entspannen. Ich brauche das nicht, sagt mir mein innerer Macher. Ich schaff das.
Irgendwann merke ich, dass die vielen Projekte mir zu viel werden. Ich kann sie nicht mehr alle bearbeiten, verliere den Überblick. Ich falle vielleicht sogar ins Burnout. Die Projekte bleiben unfertig zurück. Meine
Stärke viel „machen zu können“ hat dazu geführt, dass ich die anderen enttäusche, weil ich die Projekte nicht ordentlich zuende führe.
Unfertige Projekte, nicht bearbeitete Verbindlichkeiten beschwören eine Krise herauf. Ich komme in Zugzwang, weil ich meinen Verpflichtungen nicht nachkomme, ich gerate vielleicht sogar in eine Finanzkrise. Mein Scheitern ist vorprogrammiert.
Ein anderes Muster - Ich muss es wissen.
Ich lese viel und gerne, bin richtig wissensdurstig und brauche fundierte Informationen, wenn ich mich mit einem Thema beschäftige. Wissenschaftliches Arbeiten fasziniert mich. Auch Vorträge zu halten, gehört zu meiner Kompetenz. Ich kann viel Wissen aufnehmen. Meine Gaben sind aber auch meine Schwächen. Wenn ich eine schriftliche Arbeit fertigstellen muss, kann es sein, dass ich bis auf den „letzten Drücker“ daran arbeite, weil ich den Eindruck nicht loswerde, dass meine Ausführungen noch nicht komplett sind. Es gibt ja vielleicht noch etwas, was ich dazu nicht gelesen habe. Dieses „bis ins Letzte“ Ausfeilen nimmt mir natürlich Spontanität. „Da geht nicht mal eben was.“ Ich brauche Zeit. Bin dabei langsam, aber dafür auch gründlich. Wenn ich unter Druck komme, lasse ich auch mal nichts mehr von mir hören. Manchmal bin ich dann einfach zu spät mit meinen Sachen fertig, so dass andere meinen Platz schon besetzt haben oder an mir vorbeiziehen. Dieser Charakterzug bringt mich, wenn ich ihn weiter verstärke, ins Hintertreffen, weil ich mit dem, was ich tue, zu lange hinter dem Berg halte, wenig Orientierung gebe, wo ich stehe, manchmal einfach zu spät oder sogar nie fertig werde.
Meinen Charakter in den Ausgleich bringen
Für jeden Charakterzug gibt es ein Gegengewicht, das ich in mir ausbilden kann. Will ich verhindern, dass sich mein Muster mit seiner Stärke extrem entwickelt und mich dadurch scheitern lässt, sollte ich den Charakterzug in mir ausbilden, der meine Stärke in den Ausgleich bringt. Er ist bereits in mir angelegt, aber ich habe ihn erst schwach ausgebildet oder mag ihn vielleicht sogar nicht an mir. Solange mich aber meine Stärke noch in Niederlagen oder ins Scheitern führt, fehlt mir dieser andere Part. Für meine Entwicklung brauche ich jetzt den Willen, etwas an meinem Verhalten ändern zu wollen. Erst die Reflexion der Reaktionen der anderen auf mein Verhalten ermöglicht mir Selbsterkenntnis. Sie ist das Fundament, auf dem ich Neues entwickeln kann. Wenn ich damit beginne, merke ich erst, wie schwierig und langwierig es ist, ein neues Verhalten in mir zu integrieren. Dabei muss ich aber keine Sorge haben, dass mir mein starker Charakterzug verloren geht, ich habe ihn ja seit meiner Kindheit gut entwickelt. Das sieht dann für die beiden oben beschrieben Muster etwa so aus:
Als „Macher“ sehe ich viel, was zu tun ist. Es fällt mir schwer, es nicht in die Realität zu bringen. Meine Begabung wird gebraucht. Es geht deshalb nicht darum, die eigenen Begabungen und Stärken in der Schublade zu lassen, sondern mehr darauf zu achten, dass ich die Projekte nicht im Alleingang starte. Die Ideen brauchen ein Netzwerk von Mitgestaltern. Dabei muss ich darauf achten, dass alle frühzeitig in den Projektprozess einbezogen werden. Es braucht verteilte Verantwortlichkeiten, damit nicht alle Verantwortung auf den Schultern des Machers liegen. Wenn das Projekt gelingen soll, braucht es neben meinen Ideen auch die der anderen. Erst wenn alle Kompetenzen gezielt eingesetzt werden, führen die Projekte zum Erfolg, sind die anderen mit ihrer Motivation dabei. Nicht einer macht alles alleine und nicht alle machen alles.
Damit ich mich als Wissender konstruktiv entwickle, muss ich „in die Pötte“ kommen. Mein Charakterzug verführt mich dazu, in Büchern, Zeitschriften, im Internet hängen zu bleiben. Mir geht es dabei ganz gut, aber diejenigen, die mit mir zu tun haben, bringe ich unnötig unter Druck. Denn wenn es um Entscheidungen oder um die Fertigstellung von Arbeiten geht, ziehe ich mich auch schon mal zurück, ohne dass ich den anderen Orientierung gebe. Meine Gabe, alles gründlich wissen zu wollen kehrt sich dann in meine Falle um. Ich muss rechtzeitig „raus“ mit meinen Sachen, weniger zu lange recherchieren noch mich zurückziehen, sondern in die Aktion gehen. Ich kann von dem Machermuster etwas lernen. Integriere ich meinen aktiven, den extravertierten Anteil in mir, unterstützt er mich die Isolation zu vermeiden.
Das Enneagramm zeigt uns einen Einblick in neun Charaktermuster. Ich stelle weitere in den nächsten Texten vor.
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