Die Wände sind nicht aus Beton, sondern aus Papier. (Foto: pixabay)

1969 - mein Lebensgefühl mit 30: Eine Revolution stand nicht bevor

Dass ich wirklich zu der Generation gehöre, war nicht nur an meinem Bart zu erkennen und dass ich filterlose Zigaretten rauchte, sondern auch an einer nächtlichen Visite der Kripo in einem Selbstversorgerhaus im Odenwald, die uns für eine geflüchtet RAF-Gruppe hielt.

Ich bin dreißig. Die Welt hat sich grundlegend gewandelt. Sie soll endlich die humane, die demokratische werden, ohne die vielen Verbotsschilder, lebendiger, spontaner, körperbetonter. Die Fesseln der Freiheit sind aus den sexuellen Restriktionen geflochten. Das Individuum wird zwar nicht in äußere Fesseln gelegt, aber von seiner Vitalität, seinen Glücksmomenten ferngehalten.

Wir sind im Aufbruch und bauen endlich die Gesellschaft, in der wir leben wollen. Wir können das auch, die Etablierten sind in der Defensive, stecken noch mit einem Bein im Sumpf des Nationalsozialismus fest. Wir können das Bisherige leicht in seine Teile zerlegen und mit neuen Bauteilen ein anders Haus bauen.

Elvis und die Beatles: Mauern aus Papier einreißen

Das Haus soll keine Schlösser haben, am besten keine Türen, nicht mehr Duschen, Schlafen abgetrennt vom Übrigen, sondern ganzheitlich, vor allem, ohne an jeder Ecke auf eine disziplinarische Vorschrift zu stoßen. Hier darfst Du das nicht, hier wird gelernt, hier wird nur 1 Stunde am Tag ferngesehen, überhaupt das Fernsehen, das löst ja die Grenzen der Person auf. Bücher formen Konturen aus. Mit Büchern kann man sich eben nicht berieseln lassen.

Das ganze Disziplinargebäude wird von der Religion zusammengehalten. Je religiöser, um so disziplinierter. Diese Mauern scheinen wie aus Beton, aber sie sind nur aus Papier. Einfach wegreißen, einfach machen, besser nicht mehr machen. Sich ein anderes Lebensgefühl holen. Jazz drückt es aus. In Frankfurt holt man sich das Lebensgefühl im Jazzkeller. Elvis Presley verkörpert es und später die Beatles, spiritueller.

Sich von innen her anders ausstrecken, nicht immer an ein „Das gehört sich nicht!“ stoßen, nicht immer im Hinterkopf eine Bremse spüren. Nicht immer der drohende Zeigefinger "Mach Deine Hausaufgaben! Räum Dein Zimmer auf! Sieh zu, dass Du fertig bist!" Das alles in nervenzerreißende Streitereien mit den Vätern und den Müttern, die das Familienleben zerbrechen sahen.

Wir waren froh, dass die gewaltsame Revolution im Sand verlief

Immer mehr wuchs die Gewalt heran. Zuerst waren es nur Auseinandersetzungen mit Worten. Wir spürten den Widerstand, die Erwachsenen saßen ja weiter auf ihren Chef-, den Professoren- und Aufsichtsratsstühlen. So sehr sich das Lebensgefühl geändert hatte, die äußeren Strukturen waren geblieben. Wir realisierten immer mehr, dass man die Chefsessel erobern musste. Je heftiger wir rebellierten, desto größer wurde das Polizeiaufgebot um die Institutionen herum.

Die meisten begannen den langen Marsch, einige waren ungeduldiger. Als sie Schleyer und Herrhausen umgebracht hatten, war es dann auch mit der Revolution zu Ende. Sie suchten Unterstützung bei den Machthabern der DDR oder ließen sich von der PLO ausbilden. Der Coup Lenins, handstreichartig die Machtinstrumente des Staates an sich zu reißen, war aussichtslos. Wir waren am Ende froh, dass diese Revolution im Sande verlaufen war.

Dass ich wirklich zu der Generation gehöre, war nicht nur an meinem Bart zu erkennen und dass ich filterlose Zigaretten rauchte, sondern auch an einer nächtlichen Visite der Kripo in einem Selbstversorgerhaus im Odenwald. Die Dorfbewohner hatten den Verdacht, dass wir zu der flüchtigen RAF-Gruppe gehörten, die noch mit Schleyer unterwegs war. Das zeigte überdeutlich, dass eine Revolution nicht bevorstand.

Der Geist bestimmte die Köpfe und die Gefühle

Für die katholische Kirche hatte Johannes XXIII. die Fenster weit aufgemacht. Wir konnten loslegen. Tatsächlich hat sich nicht nur an der Institution etwas geändert, sondern noch viel tiefer. Das Gefühl für Gott hat sich verschoben von der Erfüllung der Pflichten hin zu dem Jesus, der zu den Armen gehören will, der Barmherzigkeit versprochen und sein Versprechen am Kreuz eingelöst hat. Die katholische Kirche ist österlicher geworden. Es sind bei Vielen die Verletzungen autoritärer Väter und Pfarrer aufgebrochen. Ich hatte das unwahrscheinliche Glück, keinen autoritären Vater, eine im Kommunalen erfolgreiche Mutter zu haben und dann im Orden einen Novizenmeister zu haben, der uns durch die Großen Exerzitien geleitet hat und überhaupt die Grundlagen eines spirituellen Lebens und nicht bloß eine aszetische Praxis vermittelt hat.

Ich habe dann gerade noch in der „alten Schule“ Denken gelernt. In den Switch von harter Arbeit am Text zur neu verordneten Political Correctness bin ich gerade noch entkommen. Zudem hatten die Konzilstheologen die geistige Oberherrschaft, der Katholizismus war noch nicht auf die heutige Biederkeit in der Symbiose von zuerst Geld, dann Verwaltung des Geldes und der Planstellen mit ein wenig Sakramentenpastoral abgesunken. Der Geist bestimmte die Köpfe wie die Gefühle.

Das marxistische Erbe über Bord werfen

Dass dieser Aufbruch zu leeren Kirchen, Missbrauch und dem Erlöschen des Gebetslebens geführt hat, wurde damals nicht als Risiko gesehen. Hauptgrund scheint mir die marxistische Ausblendung des Individuums. Bis heute besteht Reform in der sog. Erneuerung der Strukturen. Aber die Institution betet nicht – noch ist sie fähig zu Glaube, Hoffnung und Liebe. Wir Achtundsechziger haben tatsächlich geglaubt, man könne die Institution endgültig katholisch imprägnieren. Offensichtlich musste der Missbrauch so offensichtlich werden, um zu zeigen, dass nur der einzelne sich bekehren kann, in einer Institution nie alle bekehrt sind.

Eine Institution hat eine andere innere Dynamik, sie provoziert Verweigerung, den einzelnen, gerade der obersten Ebene um die Sicherung der eigenen Position, den Ausbau der Macht der Zentrale gegenüber der Peripherie, lärmender Konsenszwang. Ich kann nur empfehlen, dieses marxistische Erbe über Bord zu werfen.

 

Dieser Beitrag gehört zum Modul "Millenials - Die Generation Y verstehen":
Wie ist das Grundgefühl der 30-Jährigen in 2019? Mehr dazu im Modul "Millenials verstehen"


Kategorie: hinsehen.net Verstehen

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