Amiens, Kathedrale, Foto: hinsehen.net E.B.

Das Böse gibt es wegen des Guten

Der kleine Markus baut mit seinen Holzklötzchen einen Turm. Er freut sich daran, spielt ein bisschen damit, wirft ihn wieder um und baut erneut auf. Dann kommt Susi, auch erst zwei Jahre alt, und wirft ihm auch alles um. Ist das von Susi böse und das von Markus nicht?

Unterscheidung von Gut und Böse ist lernbar

Markus und Susi lernen mit ihren zwei Jahren durch Experimentieren, Aufbauen, Kaputtmachen, wieder Aufbauen. Sie erfreuen sich an dem Lärm, dem Durcheinander das dabei entsteht, erfahren, wie andere darauf reagieren, denn sie registrieren genau welche Konsequenzen aus ihrem Verhalten folgen. Markus macht es jetzt noch richtig Spaß, seine „Gebäude“ zum Einsturz zu bringen, weil er davon fasziniert ist, wie er etwas herstellen und wieder zerstören kann. Er übt damit auch seine Geschicklichkeit, seine Beobachtungsgabe und seine Kreativität. Indem er sein eigenes Werk kaputt macht, um es erneut aufzubauen, erlebt er eine besondere Gestaltungskraft, die ihn antreibt. Susi hilft Markus bei seinen Aufbau- und Zerstöraktionen. Es macht auch ihr Spaß. Das Spiel kann eine Weile gutgehen, aber irgendwann ist es Markus zu viel, wenn Susi immer wieder eingreift und er verbietet ihr das. Wenn sie es nicht lässt, schickt er sie aus seinem Zimmer oder schreit nach Mama. Seine Reaktion auf ihr Verhalten zeigt Susi, dass sie damit aufhören muss, will sie weiter mit Markus spielen können.

Es sind die Konsequenzen

Mit den Konsequenzen, die Susi in ihren folgenden Entwicklungsjahren erfährt, lernt sie, welches Verhalten zu einem guten Miteinander führt, aber auch, was sie lieber lassen sollte, damit sie nicht alleine spielen muss. Irgendwann hat sie kapiert, dass sie in das Spiel von Markus nicht eingreifen soll, es sei denn, er möchte das. Jetzt schon kann sie die Unterscheidung treffen, was für sie beide nicht zum Streit führt. Im Laufe ihrer Entwicklung lernen beide aus den Konsequenzen, die ihr Verhalten auslöst,auch für andere Situationen, was für ihren Umgang mit anderen förderlich ist und womit sie andere reizen, ausgrenzen, verletzen können. Es ist eine weitere Stufe, das Gute vom Bösen zu unterscheiden, nämlich Regeln zu erkennen, die für verschiedene Situationen gelten.

Orientierung durch Erwachsene

Das Kind lernt schrittweise durch Nachahmung und dann auch durch Korrektur. Wenn es älter geworden ist, kann es unterscheiden, was „gut“ d.h. förderlich ist und womit es anderen schaden kann. Für diesen Lernprozess sind Erfahrungen mit Vorbildern, die sich an ethischem Verhalten orientieren, notwendig. Anfänglich sind es Eltern, Spielgefährten wie auch Erzieher- und LehrerInnen. Handeln diese in entscheidenden Situationen selbst nicht „gut“, schlagen, lügen oder benachteiligen sie andere, verinnerlichen die Kinder das als Verhaltensweisen, die sie übernehmen können. Denn das Kind ahmt erst einmal nach, was es von anderen erlebt. Es braucht darüber hinaus aber auch die logischen Reaktionen auf sein Verhalten, um zu erkennen, was hilfreich oder abträglich ist.

Elke geht mit ihrem 6-jährigen Sohn Johannes einkaufen und bekommt nicht mit, dass er aus dem Süßigkeitenkorb an der Kasse etwas eingesteckt hat. Draußen zeigt er ihr, was er mitgenommen hat. Sie würde es am liebsten ignorieren und gar nicht darauf eingehen, weil es ihr unangenehm ist. Sie entscheidet sich aber anders, denn Johannes würde die Erfahrung machen, dass er etwas aus dem Geschäft einfach mitnehmen kann, ohne zu bezahlen. Sie muss sich zum Handeln überwinden, obwohl es ihr peinlich ist, dass ihr Sohn etwas mitnimmt, das allgemein als „klauen“ verstanden wird. Weil ihr aber an einer soliden Erziehung gelegen ist, überwindet sie sich und schickt ihn an die Kasse zurück, wo er sich der Kassiererin selbst offenbaren muss. Sie nimmt ihm diesen schweren Weg nicht ab, denn auch er muss seine Scham überwinden lernen. Mit sechs Jahren weiß er ja bereits, dass sein Verhalten nicht richtig ist. Für Johannes ist die Reaktion der Mutter von besonderer Bedeutung, um sich orientieren zu können. Es wird vermutlich nicht mehr so schnell vorkommen, dass Markus „stiehlt“.

Über eigene Erfahrungen und Reaktionen von außen auf das Verhalten baut sich das moralische Gewissen im Laufe des Kindesalters auf. Das Gewissen beinhaltet, Verhaltensregeln zu verstehen und auf neue Situationen anwenden zu können. Verhaltensregeln, die sich nicht nur auf äußere Bedingungen wie Ordnung beziehen, sondern vor allem die tieferen Dimensionen, wie die Achtung vor dem Gegenüber, Ehrlichkeit, Gewaltlosigkeit etc., berücksichtigen.

In der Kindheit lerne ich die Unterscheidung von „Gut“ und „Böse“

Mit solchen Erfahrungen und den damit verbundenen Lernprozessen ist das Kind immer mehr in der Lage, Gut und Böse zu unterscheiden. Es kann sich jetzt auch bereits frei entscheiden, den anderen bewusst zu schädigen oder ihn zu unterstützen, ihm in schwierigen Situationen beizustehen, ihm einen Vorteil zu verschaffen. Der innere Kompass ist das entwickelte Gewissen, das ihm hilft, Entscheidungen so zu treffen, dass sie hilfreich sind. Übertritt es absichtlich die Grenze, „gut“ zu handeln, z. B. weil es sich über jemanden ärgert und diesem aus der Wut heraus die Luft aus dem Fahrradreifen lässt, weiß es genau, dass es etwas Böses tut. Das ist jetzt anders als wenn es mit zwei Jahren dem anderen den Turm zum Einsturz bringt.
Explizit „Gutes“ zu tun, sich für das Förderliche zu entscheiden, ist erst möglich, wenn das Kind in der Lage ist zu erkennen, dass es auch explizit dem anderen Schaden zufügen kann.

Diese Beobachtungen zeigen, dass tatsächlich das Gute sich schrittweise besser herausschält, wenn es mit dem Bösen konfrontiert wird.
Es bleibt die Frage offen, weshalb  es so viel Böses in unserer Welt gibt. Dazu in einem weiteren Artikel.


Kategorie: Analysiert

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