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Zum Phänomen des Vergessens im digitalen Zeitalter

Das Erinnern scheint im digitalen Zeitalter dem Vergessen gewichen zu sein. Es ist nicht notwendig, sein Gedächtnis zu bemühen, das Suchen bei Google ist schneller. Das Vergessen erspart den Aufwand mühsamen Erinnerns. Gleichzeitig sucht der Mensch nach Zuverlässigkeit und Verbindlichkeit, die wiederum davon abhängig sind, dass man den anderen nicht vergisst, im Gedächtnis behält, was den anderen bewegt, was man gemeinsam erlebt hat usw. Zugleich nimmt mit der Demenz das Vergessen krankhafte Züge an.

Der moderne Mensch sieht sich einer Ambivalenz gegenüber, für die es bisher noch keine Lösungen zu geben scheint. Inwieweit das Vergessen als Vergessen wahrgenommen wird, ist angesichts sich überschlagender Informationen, die alle gar nicht verarbeitet werden können und der Gewissheit, dass man jederzeit in Suchmaschinen Vergessenes wieder ins Bewusstsein holen kann, möglicherweise gar keine Frage oder wird nicht als ein Problem verstanden. Auf der anderen Seite nimmt die Zahl älterer Menschen zu, die an einer Demenz leiden und sich nicht mehr erinnern können. In der Regel ist maßgeblich und zunächst das Kurzzeitgedächtnis gestört, was früher war, ist dagegen nicht vergessen.

Das Gedächtnis

Das Gedächtnis ist von verschiedenen Faktoren abhängig. Was in den sensorischen Filter als Reiz und Informationen fällt, muss nach bestimmten Kriterien sortiert werden. Das meiste fällt durchs Raster, weil wir mit den Daten nichts anfangen können. Ob unser Gehirn diese Informationen tatsächlich vergisst, das ist eine andere Frage. Durch Hypnose ist es manchmal möglich, sich an konkrete Einzelheiten zu erinnern, die man bewusst gar nicht mitbekommen hat. Die Informationen, die ins Kurzzeitgedächtnis als erkannte Fakten geraten, müssen dann weiter verarbeitet werden. Hierfür stehen uns Methoden zur Verfügung, die angeboren oder erworben sind. Neue Informationen werden mit alten Inhalten verbunden und bleiben so in unserer Erinnerung haften. Was völlig neu ist, vergessen wir wieder. Unser Langzeitgedächtnis, in das die verarbeiteten Informationen gelangen, ist nun kein Depot, in dem die Inhalte offen herumliegen und wir einfach nur hineingreifen müssten. Wir benötigen einen Abrufreiz, um Informationen zu erhalten. Einen solchen Abrufreiz erlernen wir gleichzeitig mit dem Inhalt. So können wir uns zum Beispiel an Vokabeln besser erinnern, wenn wir das Musikstück hören, das wir beim Einpauken der Vokabeln gehört haben.

Vergessen und Sinn

Wenn man also über das Vergessen nachdenkt, muss man sich zunächst klarmachen, auf welchen Mechanismus man sich bezieht. Ältere Menschen - und manchmal auch nicht nur die - klagen darüber, dass sie sich viele Dinge nicht mehr merken könnten, dass sie nicht mehr so schnell lernen wie früher. Bei genauerer Betrachtung stellt man fest, dass diese Meinung auf einem Denkfehler oder besser Gefühlsfehler beruht. Als Kind lernen wir in einer rasanten Geschwindigkeit, wir entdecken immer wieder Neues, sind erstaunt über Zusammenhänge und wollen alles wissen, fragen nach dem Warum. Mit einem größeren Schatz an Wissen und Kenntnissen über Zusammenhänge werden neue Informationen bedeutungsloser, wir suchen nach brauchbaren Informationen und halten nicht mehr naiv wie ein Kind alles für wichtig. Weil wir Informationen nach einem immer feineren Raster aussortieren, haben wir das Gefühl, weniger zu lernen und uns auch an weniger Dinge erinnern zu können. Wir müssen quasi das Vergessen unwichtiger Dinge erlernen, damit wir die entscheidenden Fakten erinnern können. Für dieses Erlernen des Vergessens sind Entscheidungen notwendig über das, was uns wichtig ist. Bei dem Erkunden nach Wichtigkeiten gelangt man an moralische oder Sinnfragen, wenn man konsequent weitermacht. Ein solches Ansinnen verzögert die Informationsaufnahme und –verarbeitung, weil die Einordnung des Inputs immer schwieriger wird. Ein Kind lernt einfach die Sprache der anderen Kinder, mit denen es bei einer Urlaubsreise im Ausland spielt. Der Erwachsene dagegen trifft eine bewusste Entscheidung, eine Fremdsprache zu erlernen und meldet sich für einen Fremdsprachenkurs an. Den höheren Aufwand, den er betreibt, gleicht er mit dem Sinn ab, den das Fremdsprachenlernen für ihn hat. Er lernt nicht en passant, learning by doing, sondern gezielt. Dieser höhere Aufwand kann mit der Schwierigkeit des Erinnerns verwechselt werden.

Folgen der Überalterung

Angenommen, ältere Menschen erinnern sich ausgewählter und verfolgen eine Strategie des Vergessens, die stark an der Entwicklung von Sinn gebunden ist, dann muss sich eine Gesellschaft verlangsamen. Erinnerungen dürfen die Gesellschaft nicht überlasten, da sonst ein kognitives Chaos entstehen oder als Abwehr Sinn erzeugt würde, der banal ist. Auf der anderen Seite steht allerdings die Notwendigkeit, eine Menge an Informationen schnell zu verarbeiten. Durch die Digitalisierung stehen Unmengen an Daten zur Verfügung, die zwar systematisiert werden können, die jedoch deswegen keinem zum Beispiel moralischen Sinn entsprechen. Um eine digitalisierte Gesellschaft funktionsfähig zu erhalten, ist eine technisch orientierte Systematik notwendig. Da aber der User umso mehr gefordert ist, seinem Tun Sinn zu verleihen, gerät er schnell in ein Überfordertsein, was manche als Burnout bezeichnen. Die Belastung ergibt sich jedoch nicht nur daraus, dass Daten verarbeitet werden müssen und ein Sinn erzeugt oder gefunden werden muss, sondern auch daher, dass es keine Räume mehr gibt, deren Wände als Schutz vor Außenreizen Bestand hätten. Es ist keineswegs utopisch anzunehmen, dass Menschen eine Brille aufsetzen (wearable computing) und sehen, was sie sehen wollen. Wände oder Mauern sind dann sekundär. Mauern waren schon bei den Jägern und Sammlern eine Möglichkeit, Räume zu gestalten, die aufgrund des Schutzes durch Mauern das Heilige bergen konnten. Die wohl älteste religiöse Kultstätte ist Göbekli Tepe in der Südtürkei, die mehr als elftausend Jahre alt ist und eben nicht zur Kultur sesshafter Gesellschaften gehörte, sondern von Jägern und Sammlern gebaut wurde.

Vergessen zwischen Datenflut und Heiligtum

Das Vergessen ist, wenn man die Gedankengänge weiterspinnt, ein Erfordernis oder eine Folge der digitalen Wirklichkeit und des Schwindens konkreter ummauerter Räume, die einem Wichtigen oder Heiligen Schutz bieten. Man kann durchaus auch vermuten, dass ein stärker werdender Konservatismus und ebenso Fundamentalismus eine Reaktion auf die Erschwernis des Erinnerns ist. Die Menschen nehmen wahr, dass das Vergessen nicht nur ein kognitives Defizit ist, sondern auch Sinnzusammenhänge aufzuheben scheint und Orte des Heiligen überflüssig macht. Auf der anderen Seite ist völlig offensichtlich, dass die Entwicklungen nicht einfach gestoppt werden können. Die Menschen haben einige Male erfahren, was es bedeutet, wenn Computer ausfallen. Dann sind einfache Tätigkeiten nicht mehr möglich, man kann seine Bankgeschäfte nicht erledigen, auf wichtige Daten nicht zugreifen o. ä. Und wenn es einen zentralen Rechner trifft, kann die Bahn nicht fahren, man kann kein Geld abheben usw. Die wahrgenommene Ambivalenz bezieht sich auf fast alle Lebensbezüge und es scheint kaum noch möglich, ohne Digitalisierung überleben zu können. Das dürfte vielen Menschen klar sein. Und dennoch sucht der Mensch nach Schutzräumen. Die hätten allerdings zur Folge, dass es ein Erinnern gäbe, allein schon deshalb, weil man sich erinnert, wo dieser Raum ist und ihn erneut aufsuchen möchte. Kann man sich erinnern, wird das Vergessen präsent und man gerät erneut in einen Konflikt. Die moderne Gesellschaft bietet dafür das Modell des Gleichzeitigen und Sofort an. Lebensmittel müssen nicht gelagert werden, man kann sie beim Discounter fast rund um die Uhr einkaufen. Waren können 24 Stunden am Tag bestellt werden. Ich muss keinen Einkaufszettel schreiben, damit ich nichts vergesse, wenn mir etwas einfällt, bestelle ich es umgehend via Internet beim entsprechenden Anbieter. Das Vergessen ist daher kein Makel oder ein Defizit, es ist eher förderlich, weil man keine Zeit verliert. Gelöst ist jedoch nicht, wie die Sehnsucht gestillt werden kann, die schon die Jäger und Sammler umtrieb, als sie in der Südtürkei ihr Heiligtum bauten.

 


Kategorie: Verstehen

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