Die WG, also eine Wohngemeinschaft, als Urzelle einer neuen Gesellschaft, eine Synthese aus Zusammenleben, politischer Aktion und Studiengemeinschaft. Die Distanz, die die vorausgehenden Generationen aufgebaut hatten, wurden eingerissen. Gab es Zeiten, in denen die Kinder ihre Eltern sogar siezten, wurden sie nicht mehr mit Mutti und Vati angeredet, sondern mit ihrem Vornamen.
Im Gefolge der von Marx bereits kritisierten "Bürgerlichen" Familienstruktur sollte die WG auch die neue Lebensgemeinschaft werden, in der die Mitglieder in möglichst direkter Unmittelbarkeit miteinander umgehen. Zwar ließ sich dieses Konzept nicht einfach auf Betriebe übertragen. Jedoch sollten Hierarchien abgebaut werden und möglichst jeder sollte mitbestimmen können.
Unmittelbarkeit zu sich selbst und zu möglichst jedem, der zum eigenen Lebenskreis gehört, war bereits von Feuerbach als Perspektive angestoßen worden. Sie wurde nach dem Ersten Weltkrieg in der Lerngemeinschaft des Bauhauses, in der Landschulbewegung und auch in weiten Teilen der Jugendbewegung aufgegriffen und dann vom Nationalsozialismus abgebrochen. Als der Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg zu Wohlstand breiter Bevölkerungskreise geführt hatte, konnten diese Ideen des 19. Jahrhunderts wieder aufgegriffen werden.
Marx hatte diese Unmittelbarkeit auf den Arbeitsprozess hin durchdacht. Die Arbeit selbst wurde als unmittelbare Auseinandersetzung mit dem Stofflichen begriffen. Da jedoch der Arbeiter sein Produkt zur Vermarktung an den Kapitalisten abgeben muss, wird die Unmittelbarkeit abgebrochen, weil der Gebrauch, der Genuss der eigenen Arbeitsleistung nicht mehr erlebt werden kann. Marx nennt diesen Abbruch der Unmittelbarkeit „Entfremdung“. Vorher hatte Feuerbach die Entfremdung auf religiöser Ebene so beschrieben: Wenn der Mensch in eine zufriedenstellende, sogar glückliche Existenz gelangen will, dann muss er die Spaltung in sich selbst überwinden, indem er ein unmittelbares Verhältnis zu sich selbst gewinnt. Das bedeutet, dass alle Institutionen und Autoritäten nicht mehr zwischen das Ich und das, was es eigentlich ich sein soll, treten dürfen, sondern der Mensch mit sich in Einklang kommen soll. Der größte Störfaktor, vor allem in der Psyche des Kindes, stellt die Gottesidee dar. Sie ist so groß und damit erdrückend, dass Religion die Entwicklung des Kindes nur hindern kann.
Psychoanalyse und Gruppendynamik
Den Weg zu sich selbst bahnt nicht die Kontemplation, sondern eine Psychotherapie. Neben der Gesprächs- und Verhaltenstherapie war es die Freudsche Psychoanalyse, die als sicherer Weg zur Selbstfindung gewählt wurde. Sie galt nicht länger nur als eine Therapie für Kranke, sondern als Königsweg der Befreiung von Zwängen. Weniger zeitaufwändig, aber erlebnisintensiv war die aus den USA übernommene Gruppendynamik. Hier wurden nicht Inhalte in Form von Vortrag und Diskussion bearbeitet, sondern die Beziehungsebene zum Thema gemacht. Die Referenten wurden Trainer genannt, sie gaben keine Themen mehr vor, sondern arrangierten Übungen, die in Feedbacks ausgewertet wurden. Jeder konnte erfahren, wie er auf andere wirkt, wie er zu Kooperation beträgt und wo seine Person zum Hindernis wird.
Sexualität: die Synthese von Politik und Intimität
Dass Nähe in der Sexualität besonders erlebt werden kann, erklärt, warum sie von den Achtundsechzigern so energisch thematisiert wurde. Sie fügten eine Dimension hinzu, die aus der Betonung der Sexualität eine sexuelle Revolution machte. Die sexuelle Praxis wurde deshalb so erfolgreich von vorher geltenden Verboten, die sich auch in Rechtsnormen niedergeschlagen hatten „befreit“, indem ein politischer Zusammenhang hergestellt wurde: Die starke Begrenzung des sexuellen Verhaltens durch Normen und konkrete Vorschriften habe den Widerstand gegen ein autoritäres Regime erstickt. Sexuelle Disziplinierung bereite den Boden für die autoritäre Herrschaft. Die Gängelung der Sexualität habe den Untertanengeist erzeugt, der den Nationalsozialismus erst möglich gemacht habe. Damit wurde die sexuelle Praxis der moralischen Beurteilung entzogen, indem sie unmittelbar mit dem Politischen gleichgesetzt wurde. Verzicht auf gelebte Sexualität wurde damit als mangelnde Widerstandsfähigkeit gegen autoritäre System zu einer Unmöglichkeit im Sinne einer Demokratisierung aller Lebensbereiche. Die Beseitigung autoritärer Machtausübung war im Urteil der Achtundsechziger mit dem Ende des Nationalsozialismus noch nicht gelungen, sondern musste für jede Erziehungs- und Bildungseinrichtung, für jeden Betrieb, jede Institution noch durchgeführt werden.
Hegel als Ideengeber
Die Achtundsechziger setzten Konzepte um, die bereits im 19. Jahrhundert entwickelt worden waren. Sie orientierten sich an Marx und über ihn an Feuerbach. Die Idee der Unmittelbarkeit war jedoch von Hegel entwickelt worden. Die Person als Prozess zu verstehen, in dem sie zu sich selbst kommt, liegt dem Entwurf seiner philosophischen Deutung zugrunde. Bei Hegel ist es der absolute Geist, der sich in den geschichtlichen Prozess hinein entäußert, um so zu sich selbst zu kommen. In diesem Prozess sind der Mensch, die ganze Menschheit hineingenommen. Aber der Mensch ist nicht Subjekt dieses Prozesses, sondern der absolute Geist. Der Mensch lebt nicht sein eigenes Leben, sondern ist dem Prozess, den der absolute Geist durchläuft, unterworfen. Weil die Geschichte in logisch aufeinander aufbauenden Entwicklungsschritten abläuft, kann sich der Mensch nur in diesen Prozess einfügen. Damit wird Freiheit zur Einsicht in die notwendig aufeinander aufbauenden Schritte des Weltprozesses. Mit dieser Konzeption haben die kommunistischen Parteien ihren Machtanspruch legitimiert. Denn sie beanspruchten, den in sich notwendigen Ablauf der Geschichte zu kennen, Schritte, die der Mensch nicht anders bestimmen, sondern nur mitgehen kann.
Die Schüler Hegels haben seine Denkwerkzeuge und seinen geschichtsphilosophischen Entwurf übernommen, aber anstelle des absoluten Geistes den Menschen zum Subjekt des Prozesses gemacht, der in der kommunistischen Gesellschaft zu seiner Erfüllung kommt, wenn nämlich der Mensch von aller Entfremdung befreit in die größtmögliche Unmittelbarkeit zu sich selbst kommt. Das beinhaltet Erlösung, die nicht von einem außerweltlichen Gott gewährt, sondern vom Menschen durch den geschichtlichen Prozess selbst erreicht werden. Wie schon bei Hegel wird im Marxismus, der mit den Achtundsechzigern eine Renaissance erlebte, in das richtige Denken verlegt.
Die christliche Theologie hat diesem Entwurf keine eigene Geschichtsphilosophie entgegengestellt. Sie hat die Achtundsechziger vorbeiziehen lassen, ohne zu verstehen, dass die Achtundsechziger ein dem Christentum vergleichbares Geschichtsmodell nicht nur gedacht, sondern auch zu einem guten Teil umgesetzt haben. Eine solche Konzeption hätte es für das absehbare Ende des Kommunismus als Wirtschaftsordnung geben müssen. Das Fehlen eines solchen Entwurfes hat zur Folge, dass die christlichen Kirchen in der ehemaligen DDR wie in Tschechien nicht überzeugen konnten. Warum es in Russland und der Ukraine eine religiöse Renaissance gibt, sollten westliche Kirchenführer und Theologen genauer studieren.
Kommentare (0)
Keine Kommentare gefunden!